Zunahme von Schmerzen als Abschiebungshindernis:
1. Art. 5 der Rückf-RL (RL 2008/115) in Verbindung mit Art. 1, 4, 19 Abs. 2 GR-Charta stehen einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegen, wenn die betroffene Person an einer schweren Krankheit leidet und Gründe für die Annahme vorliegen, dass im Zielstaat die Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme von Schmerzen besteht, weil dort die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung (hier: Cannabis) verboten ist.
2. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer Verschlechterung des Gesundheitszustands wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendender Maßnahme entgegensteht.
3. Die gesundheitlichen Folgen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher sind nicht nur hinsichtlich der Reisefähigkeit zu berücksichtigen, sondern auch hinsichtlich der Folgen für den Gesundheitszustand nach Ende der Abschiebung.
4. Der Gesundheitszustand der betroffenen Person und die Versorgung, die sie erhält, sind bei Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 5 GR-Charta/Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Gegen dieses Recht wird jedoch nicht schon wegen der Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand bei Rückkehr verschlechtert, verstoßen, sondern erst, soweit diese Gefahr die nach Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
14 Der 1988 geborene russische Staatsangehörige X erkrankte im Alter von 16 Jahren an einer seltenen Form von Blutkrebs, wegen der er sich derzeit in den Niederlanden in Behandlung befindet. Seine medizinische Behandlung besteht u. a. in Aderlässen und in der Verabreichung von medizinischem Cannabis zur Schmerzbekämpfung. Diese medizinische Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis ist in Russland nicht erlaubt.
15 Am 31. Oktober 2013 stellte X einen ersten Asylantrag in den Niederlanden. Der Staatssekretär entschied jedoch, dass das Königreich Schweden der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei. [...]
17 Am 19. Mai 2016 stellte X erneut einen Asylantrag in den Niederlanden, da die Frist, innerhalb derer er nach Schweden hätte überstellt werden können, zwischenzeitlich abgelaufen war. Zur Stützung dieses neuen Antrags machte X geltend, dass die medizinische Behandlung, die er in Russland zur Bekämpfung der mit seiner Krankheit verbundenen Schmerzen erhalten habe, bei ihm Nebenwirkungen verursacht habe und dass er festgestellt habe, dass die Einnahme von medizinischem Cannabis in Anbetracht seines Gesundheitszustands für ihn besser sei. Da der Gebrauch von medizinischem Cannabis in seinem Herkunftsland nicht erlaubt sei, habe er in diesem Land Cannabispflanzen zu medizinischen Zwecken angebaut, was ihn dort in derartige Schwierigkeiten gebracht habe, dass er nunmehr um internationalen Schutz nachsuche. [...]
20 Am 19. Februar 2020 lehnte es der Staatssekretär erneut ab, X ein befristetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 8 EMRK zu erteilen und seine Abschiebung aufzuschieben. Außerdem erließ er eine Rückkehrentscheidung, mit der X angewiesen wurde, das niederländische Hoheitsgebiet binnen vier Wochen zu verlassen.
21 Gegen diese Rückkehrentscheidung legte X beim vorlegenden Gericht einen Rechtsbehelf ein. Er ist der Ansicht, dass ihm ein Aufenthaltstitel nach Art. 8 EMRK oder zumindest ein Aufschub der Abschiebung nach Art. 64 des Ausländergesetzes gewährt werden müsse. Insoweit macht er geltend, die schmerzlindernde Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis, die er in den Niederlanden erhalte, sei für ihn so wesentlich, dass er bei Einstellung dieser Behandlung nicht mehr auf menschenwürdige Weise leben könne. [...]
35 Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) das Verfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Kann eine erhebliche Zunahme der Schmerzintensität durch das Fehlen einer medizinischen Behandlung bei unverändertem Krankheitsbild eine Situation darstellen, die Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta zuwiderläuft, wenn die sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Ausreisepflicht nicht ausgesetzt wird?
2. Ist die Festlegung einer starren Frist, innerhalb derer sich die Folgen des Fehlens einer medizinischen Behandlung zeigen müssen, um gesundheitliche Hindernisse für eine sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebende Rückkehrpflicht anzunehmen, mit Art. 4 der Charta in Verbindung mit Art. 1 der Charta vereinbar? Falls die Festlegung einer starren Frist dem Unionsrecht nicht zuwiderläuft, ist es einem Mitgliedstaat dann erlaubt, eine allgemeine Frist festzulegen, die für alle möglichen Erkrankungen und alle möglichen gesundheitlichen Folgen gleich ist?
3. Ist eine Regelung, nach der die Folgen der Abschiebung ausschließlich im Rahmen der Frage zu beurteilen sind, ob und unter welchen Bedingungen der Ausländer reisen kann, mit Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie der Richtlinie 2008/115 vereinbar?
4. Verlangt Art. 7 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass der Gesundheitszustand des Ausländers und die Behandlung, die er insoweit im Mitgliedstaat erhält, im Rahmen der Frage beurteilt wird, ob der Aufenthalt auf der Grundlage des Privatlebens zu gestatten ist? Verlangt Art. 19 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta vor dem Hintergrund der Richtlinie 2008/115, dass bei der Beurteilung, ob gesundheitliche Probleme als Abschiebungshindernisse angesehen werden können, auf das Privat- und Familienleben im Sinne von Art. 7 der Charta abgestellt wird? [...]
51 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, der an einer schweren Krankheit leidet und in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, der Gefahr einer erheblichen Zunahme der durch diese Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Mitgliedstaat eine enge Frist vorsehen kann, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann. [...]
56 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 steht daher dem entgegen, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergeht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.
57 Nach Art. 19 Abs. 2 der Charta darf nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, vielmehr gilt dies auch für einen Staat, in dem das Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht. [...]
58 Folglich darf gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei der Rückkehr in ein Drittland dem tatsächlichen Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta in Verbindung mit deren Art. 1 und Art. 19 Abs. 2 ausgesetzt wäre, keine Entscheidung über die Rückkehr in dieses Land ergehen, solange dieses Risiko fortbesteht.
59 Ebenso wenig darf während dieses Zeitraums gegen den Drittstaatsangehörigen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen, was im Übrigen in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich vorgesehen ist. [...]
61 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK können die durch eine natürlich auftretende physische oder psychische Erkrankung entstehenden Schmerzen aber unter diesen Art. 3 fallen, wenn sie durch eine von den Behörden zu verantwortende Behandlung – die sich aus Haftbedingungen, einer Ausweisung oder anderen Maßnahmen ergeben kann – verschlimmert werden oder zu werden drohen, sofern die dadurch entstehenden Schmerzen die nach diesem Art. 3 erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 174 und 175, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C-353/16, EU:C:2018:276, Rn. 38). [...]
63 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 3 EMRK der Abschiebung einer schwer kranken Person entgegensteht, für die unmittelbare Lebensgefahr besteht oder bei der es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass sie, obwohl sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, mit der tatsächlichen Gefahr konfrontiert würde, wegen des Ausbleibens einer angemessenen Behandlung im Zielland oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unumkehrbaren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu werden, die zu starken Schmerzen oder einer erheblichen Verkürzung ihrer Lebenserwartung führt (vgl. in diesem Sinne Urteil Paposhvili, §§ 178 und 183, sowie Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C-353/16, EU:C:2018:276, Rn. 40). [...]
66 Aus den Rn. 52 bis 65 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 sowie mit Art. 19 Abs. 2 der Charta es einem Mitgliedstaat verwehrt, gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen oder ihn abzuschieben, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen diesen aufgrund der Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Versorgung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung oder einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die mit starken Schmerzen verbunden wäre, aussetzen würde.
67 Zweitens ist für die Zwecke des Ausgangsverfahrens zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat davon absehen muss, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen, der an einer schweren Krankheit leidet, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Drittstaatsangehörige im Fall einer Rückkehr aufgrund des Verbots der einzigen wirksamen schmerzlindernden Behandlung im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, ohne dass er durch diese Rückkehr der Gefahr ausgesetzt würde, dass sich die Krankheit, an der er leidet, verschlimmert.
68 Insoweit kann ein Mitgliedstaat, wie in den Rn. 61, 63 und 65 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, gegen das in Art. 4 der Charta verankerte Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Schmerzen, die einem Drittstaatsangehörigen durch eine natürlich aufgetretene Krankheit entstehen, durch die von den Behörden dieses Mitgliedstaats erlassene Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme in einem solchen Maß verschlimmern, dass diese Schmerzen die in den genannten Randnummern angeführte Erheblichkeitsschwelle erreichen.
69 Folglich genügt der Umstand, dass die Gefahr besteht, dass sich im Fall der Rückkehr eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein die mit der schweren Krankheit dieses Drittstaatsangehörigen verbundenen Schmerzen verschlimmern, nicht, um auszuschließen, dass diese Rückkehr mit Art. 4 der Charta unvereinbar sein kann. Dies gilt umso mehr, als eine Zunahme der mit einer Krankheit verbundenen Schmerzen selbst zu einer Verschlechterung des physischen oder psychischen Gesundheitszustands als solches der betroffenen Person führen kann.
70 Allerdings setzt nicht jede Gefahr einer Zunahme von Schmerzen, die sich aus der Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen ergeben würde, diesen einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung aus. Entsprechend den Ausführungen in Rn. 66 des vorliegenden Urteils müssen nämlich außerdem ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr ausgesetzt wäre, dass seine Schmerzen rasch, erheblich und unumkehrbar zunehmen.
71 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass u. a. dann ernsthafte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Gefahr besteht, dass ein Drittstaatsangehöriger im Fall seiner Rückkehr einer erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen ausgesetzt sein wird, wenn feststeht, dass die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung ihm im Zielland nicht rechtmäßig zuteilwerden kann und dass das Ausbleiben einer solchen Behandlung ihn Schmerzen von einer solchen Intensität aussetzen würde, dass es gegen die Menschenwürde verstoßen würde, weil bei ihm dadurch schwere und unumkehrbare psychische Störungen verursacht würden oder er sogar zum Selbstmord veranlasst werden könnte; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies im Licht aller maßgeblichen, insbesondere medizinischen, Umstände zu prüfen. Konkret ist die Unumkehrbarkeit der Zunahme der Schmerzen unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren, einschließlich der unmittelbaren Auswirkungen und der eher mittelbaren Folgen einer solchen Zunahme, zu beurteilen (vgl. entsprechend EGMR, Urteil vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, CE:ECHR:2021:1207JUD005746715, § 138).
72 Was zweitens das Erfordernis anbelangt, dass die Rückkehr des betroffenen Drittstaatsangehörigen für diesen die Gefahr einer raschen Zunahme seiner Schmerzen mit sich bringt, ist zu betonen, dass diese Voraussetzung nicht so eng ausgelegt werden darf, dass sie der Rückkehr eines schwerkranken Drittstaatsangehörigen nur in den Extremfällen entgegensteht, in denen dieser gleich bei seiner Ankunft im Hoheitsgebiet des Ziellandes oder unmittelbar danach eine erhebliche und nicht unumkehrbare Zunahme seiner Schmerzen erleiden würde. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Zunahme der Schmerzen der betroffenen Person, die durch ihre Rückkehr in ein Land verursacht wird, in dem keine geeigneten Behandlungen zur Verfügung stehen, allmählich erfolgen kann und dass es eine gewisse Zeit dauern kann, bis diese Zunahme erheblich und unumkehrbar wird.
73 Außerdem stehen sowohl die Notwendigkeit, bei der Beurteilung der insoweit nach Art. 4 der Charta erforderlichen Erheblichkeitsschwelle alle relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, als auch der spekulative Anteil, der einer solchen prospektiven Prüfung inhärent ist, dem entgegen, dass die Zunahme der Schmerzen eines Drittstaatsangehörigen im Fall der Rückkehr nur dann als rasch angesehen wird, wenn es wahrscheinlich ist, dass sie innerhalb einer im Recht des betreffenden Mitgliedstaats im Voraus absolut festgelegten Frist eintritt.
74 Die zuständige nationale Behörde muss nämlich die Frage, wie rasch eine solche Zunahme im Fall einer Rückkehr wahrscheinlich eintreten wird, auf der einen und den Grad der Intensität der Zunahme der Schmerzen, die in einem solchen Fall zu befürchten ist, auf der anderen Seite nach Maßgabe der Krankheit, an der der Drittstaatsangehörige leidet, vergleichend prüfen können.
75 Legen die Mitgliedstaaten eine Frist fest, so darf diese nur indikativ sein und entbindet die zuständige nationale Behörde nicht von einer konkreten Prüfung der Situation des betroffenen Drittstaatsangehörigen anhand aller relevanten Umstände, insbesondere der in der vorstehenden Randnummer genannten, unter Berücksichtigung der Krankheit, an der dieser Drittstaatsangehörige leidet.
76 Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist. Ein Mitgliedstaat darf keine enge Frist vorsehen, innerhalb derer der Eintritt einer solchen Zunahme wahrscheinlich sein muss, damit dies der Rückkehrentscheidung oder der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegenstehen kann. [...]
77 Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1, 4 und 19 der Charta dahin auszulegen ist, dass sie dem entgegensteht, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist.
78 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgeht, dass die betreffende niederländische Regelung unterscheidet zwischen einerseits der Beurteilung der Gefahr, dass der durch die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen verursachte Abbruch von dessen Behandlung kurzfristig eine "medizinische Notlage" im Sinne von Nr. 7.1.3 der Ausländerrundverfügung hervorruft, und andererseits der Beurteilung der Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher, die sich in den Rahmen der Prüfung der Reisefähigkeit des Drittstaatsangehörigen einfügen muss und die daher voraussetzt, dass nur diejenigen medizinischen Folgen berücksichtigt werden, die während der Abschiebung wahrscheinlich auftreten werden, unter Ausschluss derjenigen Folgen, die sich nach deren Beendigung im Zielland manifestieren können. [...]
80 Unter Berücksichtigung dieser Klarstellung ergibt sich aus der Begründung der Antwort auf die erste und die zweite Frage, dass Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 verlangen, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen bzw. vor der Abschiebung eines solchen Drittstaatsangehörigen jeden ernsthaften Zweifel hinsichtlich der Gefahr ausschließen können, dass die Rückkehr des Drittstaatsangehörigen zu einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung dieser Krankheit oder der durch diese verursachten Schmerzen führt. Kann ein solcher Zweifel nicht ausgeräumt werden, darf die zuständige nationale Behörde weder eine Rückkehrentscheidung gegen den betreffenden Drittstaatsangehörigen erlassen noch diesen abschieben.
81 Dieses Verbot gilt zwar auch dann, wenn der betreffende Mitgliedstaat nicht in der Lage ist, die Abschiebung als solche des betreffenden Drittstaatsangehörigen so zu organisieren, dass namentlich gewährleistet ist, dass dieser während der Abschiebung nicht der Gefahr einer erheblichen und unumkehrbaren Verschlimmerung seiner Krankheit oder seiner Schmerzen ausgesetzt ist, jedoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass es für den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen oder dessen Abschiebung genügt, dass dieser Mitgliedstaat garantiert, dass der Drittstaatsangehörige während der Abschiebung eine angemessene Versorgung erhält. Der betreffende Mitgliedstaat muss sich nämlich vergewissern, dass die betroffene Person, wenn ihr Gesundheitszustand es erfordert, nicht nur während der Abschiebung als solcher eine medizinische Versorgung erhält, sondern auch nach Beendigung der Abschiebung im Zielland (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C-578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 76 bis 82).
82 Nach alledem sind Art. 5 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als solcher für den Gesundheitszustand eines Drittstaatsangehörigen von der zuständigen nationalen Behörde nur berücksichtigt werden, um zu prüfen, ob der Drittstaatsangehörige reisefähig ist. [...]
83 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie mit den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Gesundheitszustand eines illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die dieser aufgrund der schweren Krankheit, an der er leidet, in diesem Hoheitsgebiet erhält, von diesem Mitgliedstaat bei der Beurteilung berücksichtigt werden müssen, ob dem Betroffenen aufgrund des Rechts auf Achtung seines Privatlebens ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuzuerkennen ist oder der Zeitpunkt seiner Abschiebung zu verschieben ist. [...]
89 Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 – einschließlich, wenn sie beabsichtigen, eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen – die Grundrechte beachten müssen, die diesem Drittstaatsangehörigen durch die Charta zuerkannt sind (Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C-554/13, EU:C:2015:377, Rn. 69).
90 Dies gilt insbesondere für das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Drittstaatsangehörigen, wie es in Art. 7 der Charta garantiert wird. Dieses Recht, auf das das vorlegende Gericht in seiner vierten Frage konkret Bezug nimmt, entspricht dem in Art. 8 EMRK garantierten Recht, so dass ihm die gleiche Bedeutung und Tragweite zuzuerkennen ist [...].
93 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass medizinische Behandlungen, die einem Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuteilwerden, auch wenn er sich dort illegal aufhält, Teil seines Privatlebens im Sinne von Art. 7 der Charta sind.
94 Wie der Generalanwalt in Nr. 114 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, trägt nämlich die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person zu ihrer persönlichen Entfaltung und damit zum tatsächlichen Genuss ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens bei, das zu einem gewissen Grad auch das Recht des Einzelnen umfasst, Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen und zu entwickeln (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 8. April 2021, Vavricka u. a./Tschechische Republik, CE:ECHR:2021:0408JUD004762113, § 261).
95 Folglich darf die zuständige nationale Behörde, wie durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 bestätigt wird, eine Rückkehrentscheidung gegen den Drittstaatsangehörigen nur dann erlassen bzw. diesen nur dann abschieben, wenn sie dessen Gesundheitszustand berücksichtigt hat.
96 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, sondern im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden muss. [...]
99 Diese Prüfung setzt die Berücksichtigung aller sozialen Bindungen voraus, die dieser Drittstaatsangehörige in dem Mitgliedstaat, in dem er sich illegal aufhält, geschaffen hat, wobei die Verletzlichkeit und der Zustand einer besonderen Abhängigkeit, hervorgerufen durch seinen Gesundheitszustand, gebührend zu berücksichtigen sind. [...]
100 Zudem kann der Umstand, dass dem Drittstaatsangehörigen im Fall seiner Rückkehr nicht mehr die gleichen Behandlungen zur Verfügung stünden wie die, die er in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet er sich illegal aufhält, erhält, und dass daher u. a. die Entwicklung seiner sozialen Beziehungen im Zielland beeinträchtigt werden könnte, für sich genommen nicht nach Art. 7 der Charta dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ihn entgegenstehen. [...]
102 Daraus folgt, dass Art. 7 der Charta, soll diesen Voraussetzungen nicht ihre Wirksamkeit genommen werden, einen Mitgliedstaat nicht verpflichten kann, auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den Drittstaatsangehörigen allein aufgrund der Gefahr einer Verschlechterung von dessen Gesundheitszustand im Zielland zu verzichten, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
103 Nach alledem ist die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7 sowie den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen, dass
– sie den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhältig ist, nicht dazu verpflichtet, diesem einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn gegen ihn aus dem Grund weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch die schwere Krankheit, an der er leidet, verursachten Schmerzen ausgesetzt wäre,
– der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Versorgung, die er in diesem Hoheitsgebiet aufgrund dieser Krankheit erhält, zusammen mit den übrigen relevanten Gesichtspunkten von der zuständigen nationalen Behörde bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens dieses Drittstaatsangehörigen dem entgegensteht, dass gegen ihn eine Rückkehrentscheidung oder eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wird, zu berücksichtigen sind,
– der Erlass einer solchen Entscheidung oder Maßnahme nicht allein deshalb gegen dieses Recht verstößt, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr in das Zielland der Gefahr ausgesetzt wäre, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht. [...]