VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 02.12.2022 - 16 K 3710/17 A - asyl.net: M31261
https://www.asyl.net/rsdb/m31261
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Frau aus Tschetschenien wegen Bedrohung durch Familienangehörige:

1. Frauen werden in der tschetschenischen Gesellschaft zwar im Vergleich zu Männern diskriminiert und ungleich behandelt, aber nicht als andersartig angesehen, weswegen sie keine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen.

2. Der Klägerin droht ein ernsthafter Schaden, weil der Bruder ihres verstorbenen Ehemanns sie wegen ihrer Lebensführung und des Umgangs mit ihren Kindern bedroht.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich der Frage, ob Frauen gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG eine soziale Gruppe darstellen: VG Berlin, Urteil vom 01.12.2022 - 28 K 330.17 A - asyl.net: M31188; siehe auch: VG Potsdam, Urteil vom 08.06.2022 - 16 K 3097/17.A - asyl.net: M30786; VG Potsdam, Urteil vom 28.04.2022 - 16 K 2743/17.A - asyl.net: M30840)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenien, Frauen, Ehrenmord, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, interner Schutz, soziale Gruppe, geschlechtsspezifische Verfolgung, Tschetschenen,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, denn sie ist kein Flüchtling gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Die vorgetragenen Bedrohungen und Gewalttätigkeiten durch die Sicherheitskräfte im Jahr 2009 knüpfen schon nicht an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale an. [...]

Die in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Bedrohungen durch den Bruder ihres Ex-Ehemanns drohen ihr nicht deshalb, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe zugehört. Es fehlt an dem eine soziale Gruppe charakterisierenden Merkmal einer deutlich abgegrenzten Identität, vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG. Für dieses sogenannte externe Merkmal genügt es, wenn die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als fest umrissene Gruppe wahrgenommen wird. [...]

Es kann weder festgestellt werden, dass Frauen, die wegen unehrenhaften Verhaltens von einem Ehrenmord bedroht sind, als abgrenzbare Gruppe wahrgenommen werden, noch dass Frauen in Tschetschenien trotz Ungleichbehandlung und Diskriminierung gegenüber Männern als gesellschaftlich andersartig eingestuft werden. Es fehlt an einer fest umrissenen Identität dieser Gruppe sowie an einer deutlichen Abgrenzung zu der sie umgebenden Gesellschaft. Es wird zwar die Familie, von der die Bedrohung ausgeht, die Frau regelmäßig als andersartig betrachten. Ob die Betrachtung als andersartig auch für die die Frauen umgebende Gesellschaft gilt, ist nicht verallgemeinerungsfähig und lässt sich allenfalls im Einzelfall feststellen. Allein der Umstand, dass es zu innerfamiliären Verstößen und einer Bedrohung durch die Familienangehörigen kommen kann, führt nicht zu dem Schluss, dass Personen, die innerhalb der Familie nach deren Ehr- und Moralverständnis durch ihr Verhalten die Familienehre verletzt haben, von der sie umgebenden Gesellschaft insgesamt als andersartig betrachtet werden. [...]

2. Der Klägerin ist indes subsidiärer Schutz zu gewähren. [...]

Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. Bei einer Rückkehr der Klägerin nach Tschetschenien ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Bruder ihres getöteten Ex-Ehemanns sie umbringen werde. Die Klägerin steht mit seinen Wertevorstellungen und Ehr- und Moralverständnis im Konflikt und hat die Familie ihres Ex-Ehemanns, hier insbesondere den Bruder, in ihrer Ehre verletzt, indem sie ihm mittels Hilfe der türkischen Behörden aufgrund seiner Gewalttätigkeiten ihre Töchter entzogen hat, die nach den Traditionen in der Familie des Vaters leben sollen. Auch ist die Klägerin eine Schande für ihren Schwager, da sie sich nicht an die aus seiner Sicht erforderlichen Traditionen halte, indem sie Hosen trage, nicht verheiratet ist, ihre Töchter keinen Hidschab tragen müssen und sie ihre Töchter, von denen eine noch minderjährig ist, nicht verheiraten lasse. Er verlange ihre Erlaubnis, die Töchter nach Tschetschenien mitzunehmen und dort verheiraten zu lassen. Mit zunehmendem Alter der Töchter sei nach den Angaben der Klägerin die Gewalt- und Bedrohungssituation noch konkreter geworden. [...]

Die Schilderung der Klägerin deckt sich auch mit den vorliegenden Erkenntnissen zur Lage der Frau im Nordkaukasus. [...] 

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich danach zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen seien nach wie vor ein Problem in Tschetschenien. Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstelle, gehöre in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag. [...]

Zudem sind in Tschetschenien nicht verheiratete Frauen wie die Klägerin nach den Erkenntnissen gefährdet und schutzlos. [...]

Nach der Erkenntnislage ist nicht davon auszugehen, dass die im Nordkaukasus agierenden staatlichen Stellen oder sonstige einschlägige Akteure gewillt sind, den dort zu befürchtenden Übergriffen seitens des Bruders ihres früheren Ehemanns als nicht-staatliche Akteure Einhalt zu gebieten. So heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass bestimmte Gruppen keinen effektiven Rechtsschutz genießen. [...]

Der Klägerin steht auch kein interner Schutz nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG zu. [...]

Es ist nach den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass die Klägerin in den außerhalb Tschetscheniens liegenden Teilen der Russischen Föderation keinen internen Schutz finden kann.

Zwar können grundsätzlich nach den vorliegenden Erkenntnissen jedenfalls politisch unverdächtigen und erwerbsfähige Tschetschenen sicher und legal in andere Teile der Russischen Föderation reisen, so dass sie nicht gezwungen sind, nach Dagestan oder Tschetschenien zurückzukehren. [...] 

Es ist jedoch angesichts des von der Klägerin geschilderten Sachverhalts kaum anzunehmen, dass es ihr auf Dauer gelänge, ihren Aufenthalt auch in anderen Teilen der Russischen Föderation vor dem Bruder ihres früheren Ehemanns zu verbergen. [...]