Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Tschetschenien nach Flucht aus Zwangsehe sowie subsidiärer Schutz für ihre Kinder:
1. Eine Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar, weil die individuelle Lebensführung der Betroffenen aufgehoben wird. Zudem droht einer von Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit psychische, physische und sexuelle Gewalt gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG.
2. Frauenrechte sowie die Gleichberechtigung der Frau werden in Tschetschenien missachtet. Fälle von Ehrenmorden, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind nach wie vor ein Problem. Häusliche Gewalt gehört zum Alltag, ist gesellschaftlich toleriert und oft äußerst brutal. Es ist davon auszugehen, dass Vergewaltigungen in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet sind. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz des russischen Rechts, des Gewohnheitsrechts (Adat) und der Scharia, sowie dem unter Ramsan Kadyrow propagierten Fokus auf traditionelle Moralvorstellungen. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt und Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach russischen Rechtsvorschriften.
3. Der Ehemann der Klägerin ist tauglicher Verfolgungsakteur gemäß § 3c Nr. 1 AsylG, da die tschetschenischen Sicherheitsbehörden nicht willens sind, Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung zu bieten.
4. Es besteht auch keine Möglichkeit internen Schutzes, da der Ehemann selbst bei der Polizei arbeitet und damit über Kontakte verfügt, um den Aufenthaltsort der Klägerin über die in der Russischen Föderation obligatorische Registrierung ausfindig zu machen.
5. Den Töchtern der Klägerin droht häusliche Gewalt durch den Ehemann sowie die Trennung von der Klägerin, sollte sich diese der Zwangsehe widersetzen. Nach dem Adat sollen Kinder bei der Familie ihres Vaters leben und sind dessen "Eigentum". Ihnen drohen schwerwiegende Eingriffe in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 EMRK und in ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK und mithin eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 30.08.2018 - 33 K 428.16.A - asyl.net: M27514)
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In Anwendung dieser Maßstäbe ist der Klägerin zu 1) die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. [...]
Die Klägerin zu 1) ist in der Russischen Föderation zum Opfer von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG geworden. Sie wurde gegen ihren Willen zwangsverheiratet, hatte im Rahmen der Ehe physische, psychische und sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann zu erleiden und wurde schließlich, nachdem sie einen Antrag auf Scheidung eingereicht hatte, zum Opfer eines gezielten Tötungsversuchs durch ihren Ehemann, in Bezug auf den ihr durch die tschetschenischen Sicherheitsbehörden polizeiliche und justizielle Maßnahmen verweigert wurden. Diese Verfolgungshandlungen knüpften allesamt an die Geschlechtszugehörigkeit der Klägerin zu 1) an. [...]
Eine Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als "verkaufbare" Sache be- und gehandelt. Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert die Frau dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe der freien Verfügbarkeit des auserwählten Ehemanns aus. [...] Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit psychische, physische und sexuelle Gewalt im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt bis hin zur gezielten Tötung (siehe etwa VG Hannover, Urteil vom 3. März 2020 - 7 A 1787/20 - juris, Rn. 34; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2019 - W 9 K 17.31742 - juris, Rn. 30; VG Gießen, Urteil vom 2. September 2019 - 1 K 7171/17.GI.A - juris, Rn. 24).
Die Verfolgungshandlungen seitens des Ehemanns der Klägerin zu 1) erfolgten und drohen der Klägerin zu 1) aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe i. S. v. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...] Nach diesen Maßgaben stellen eine Zwangsheirat sowie die damit einhergehenden und für den Fall der Flucht aus dieser drohenden Gewalt- bis hin zu Tötungshandlungen nach den vorbezeichneten Ausführungen an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgungshandlungen dar.
Diese Ausführungen der Klägerin zu 1) korrespondieren auch mit den einschlägigen Erkenntnismitteln. Frauenrechte sowie die Gleichberechtigung der Frau werden in Tschetschenien missachtet. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region - dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. [...] Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag. Sie ist weit verbreitet, gesellschaftlich toleriert und oft äußerst brutal. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. [...]
Der Ehemann der Klägerin zu 1) stellt auch einen tauglichen Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG dar, da die tschetschenischen Sicherheitsbehörden nach den vorbezeichneten Erkenntnissen erwiesenermaßen nicht willens sind, der Klägerin zu 1) Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten. [...]
Die Prognose für eine geschlechtsspezifische Gefährdung von Frauen in Form einer Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG bestimmt sich u.a. maßgeblich nach der jeweiligen sozialen Umgebung und der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der - engeren oder weiteren - Familie und deren Umfeld. [...]
Der Klägerin zu 1) steht auch nicht gemäß § 3e AsylG die Möglichkeit internen Schutzes in einem anderen Teil der Russischen Föderation offen. Denn der Ehemann der Klägerin zu 1) arbeitet selbst bei der Polizei und hat damit besondere Kontakte, die es ihm ermöglichen, den Aufenthaltsort der Klägerin zu 1) in der Russischen Föderation über die obligatorische Registrierung ausfindig zu machen. [....]
Nach diesen Maßgaben droht den Klägerinnen zu 2) und 3) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Ihnen droht bei einer Rückkehr nach Tschetschenien der ungezügelten häuslichen Gewalt des Ehemannes der Klägerin zu 1) ausgesetzt zu sein und außerdem von der Klägerin zu 1) getrennt zu werden, sollte sich diese der Zwangsehe widersetzen und aus diesem Grund sogar getötet werden. Die von dem Ehemann der Klägerin zu 1) ausgehende häusliche Gewalt und die gewaltsame Trennung der Klägerinnen zu 2) und 3) von der Klägerin zu 1) stellen schwerwiegende Eingriffe in ihre grundlegenden Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 EMRK und auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, welches unter anderem das Recht umfasst, mit seinen Eltern zusammenzuleben, dar. [...] In diese Rechte wird besonders schwerwiegend eingegriffen, indem die Klägerinnen zu 2) und 3) als minderjährige und damit besonders vulnerable und schutzbedürftige Personen häuslicher Gewalt unterzogen und gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange und Interessen von der Klägerin zu 1) getrennt werden. [...]
Im Einklang mit dem Adat, der besagt, dass Kinder bei der Familie ihres Vaters leben sollten und dass die Kinder das „Eigentum“ des Vaters und seiner Familie sind, kommen Kinder, deren Eltern in Tschetschenien geschieden werden, zum Vater. [...]
Nach der Erkenntnismittellage ist auch nicht davon auszugehen, dass die im Nordkaukasus agierenden staatlichen Stellen noch sonstige einschlägige Akteure im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG i. V. m. § 3d AsylG gewillt sind, die Klägerinnen zu 2) und 3) vor häuslicher Gewalt und der gewaltsamen Trennung von der Klägerin zu 1) zu schützen. [...]