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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.10.2022 - XIII ZB 64/20 - asyl.net: M31170
https://www.asyl.net/rsdb/m31170
Leitsatz:

Haftgerichte müssen das Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung prüfen:

1. Haftgerichte haben zu prüfen, ob eine vollziehbare Abschiebungsandrohung vorliegt. Eine Ausweisungsentscheidung kann die Ausreisepflicht einer Person dabei nicht begründen, wenn zwischenzeitlich auf Antrag der betroffenen Person ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wurde und der Aufenthalt deshalb gemäß § 55 Abs. 1 AsylG gestattet war.

2. Eine erneute persönliche Anhörung der betroffenen Person ist zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen weitere Sachaufklärung erwarten lässt, sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen die betroffene Person noch nicht gehört worden ist. Eine solche Tatsache ist sowohl das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, Abs. 8 AsylG als auch die erstmalige Androhung der Abschiebung.

(Leitsätze der Redaktion; siehe mit weitergehenden Ausführungen zur Prüfpflicht des Haftgerichts die Entscheidung zur selben Person: BGH, Beschluss vom 25.10.2022 - XIII ZB 65/20 - asyl.net: M31171)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ausreisepflicht, Anhörung, Abschiebungsandrohung, persönliche Anhörung, Wiederaufnahme des Verfahrens, Abschiebungsandrohung, unselbstständige Abschiebungsandrohung, Vollziehbarkeit, vollziehbar ausreisepflichtig,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 1, FamFG § 68 Abs. 3 S. 1, FamFG § 68 Abs. 3 S. 2, AsylG § 71 Abs. 5, AsylG § 71 Abs. 8, AufenthG § 62 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 1
Auszüge:

[...]

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Verlängerung der Haft sei rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. August 2020 enthalte nunmehr eine vollziehbare Abschiebungsandrohung. […] Überdies habe die beteiligte Behörde bereits am 21. August 2020 eine für sofort vollziehbar erklärte Abschiebungsandrohung ohne Gewährung einer Ausreisefrist erlassen. Es sei nicht erforderlich, dass die Haftandrohung vor der Haftentscheidung vorliege. Es genüge vielmehr, wenn deren Erlass während der Haftzeit zu erwarten sei.

2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlte bereits an einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen.

a) Eine solche ergab sich nicht aus dem Bescheid des Bundesamts vom 22. Januar 2020, weil die Abschiebungsandrohung, wie das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 20. August 2020 festgestellt hat, nicht sofort vollziehbar war.

b) Auch die Abschiebungsandrohung im Bescheid der beteiligten Behörde vom 21. August 2020 bot keine Grundlage für die Annahme, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Zwar hat sie ihm darin die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Dieser Bescheid ergänzte aber lediglich die frühere Verfügung vom 14. Oktober 2015, enthielt jedoch keine selbständige Ausweisungsentscheidung. Die Ausweisungsentscheidung aus dem Jahr 2015 konnte die Ausreisepflicht des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftentscheidung nicht mehr begründen, weil das Bundesamt auf Antrag des Betroffenen ein weiteres Asylverfahren durchgeführt hatte und diesem daher der Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 55 Abs. 1 AsylG gestattet war (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 - VZB 159/17, juris Rn. 20).

c) Das Beschwerdegericht konnte sich schließlich nicht auf den Änderungsbescheid des Bundesamts vom 24. August 2020 und die darin enthaltene Abschiebungsandrohung stützen.

aa) Für den vor Bekanntgabe des Bescheids vom 24. August 2020 angeordneten Haftzeitraum konnte dieser Bescheid schon keine tragfähige Grundlage bilden, weil die Abschiebungsandrohung, die nach § 59 Abs. 1 AufenthG eine unabdingbare Vollstreckungsvoraussetzung bildet, nicht wie erforderlich (BGH, Beschlüsse vom 21. August 2019 - VZB 60/17, InfAuslR 2020, 28 Rn. 9; vom 31. August 2021 - XIII ZB 97/19, NVwZ-RR 2022, 115 Rn. 11) im Zeitpunkt der Verlängerung der Sicherungshaft vorlag. [...]

Das Beschwerdegericht kann von der nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG an sich vorgeschriebenen und vom Gesetzgeber wegen der Bedeutung des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht für nicht begründungsbedürftig gehaltenen (erneuten) persönlichen Anhörung des Betroffenen (vgl. § 420 FamFG) nach Satz 2 der genannten Vorschrift - auch bei der gebotenen Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - absehen, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (näher BGH, Beschluss vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht im Ermessen des Beschwerdegerichts (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - VZB 67/15, InfAuslR 2016, 54 Rn. 4). Die erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist aber zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung entarten lässt, sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen der Betroffene noch nicht gehört worden ist (BGH, Beschluss vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24, mwN). Eine solche neue Tatsache ist ebenso wie das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, 8 AsylG, § 51 Abs. 5 VwVfG (BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2012 - VZB 274/11, InfAuslR 2013, 77 Rn. 11; vom 21. September 2021 - XIII ZB 140/19, juris Rn. 24) auch die erstmalige Androhung der Abschiebung. Damit hat sich die Grundlage für die Haftanordnung nicht nur geändert. Mit der Abschiebungsandrohung vom 24. August 2020 sind vielmehr erstmals die Voraussetzungen für die Haftanordnung geschaffen worden. [...]