VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 19.01.2022 - 4 K 2909/17.KS.A - asyl.net: M30676
https://www.asyl.net/rsdb/m30676
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für belutschischen Aktivisten aus Pakistan:

1. Nach der Erkenntnislage spricht Überwiegendes dafür, dass der pakistanische Staat für das Verschwindenlassen, die Tötung und Folter von belutschischen Aktivisten verantwortlich ist oder staatliche Akteure sich zumindest daran beteiligen.

2. Jedenfalls aufgrund seines Verhaltens im Bundesgebiet, das als Fortsetzung seiner bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung (§ 28 Abs. 1a AsylG) anzusehen ist, ist beachtlich wahrscheinlich, dass der nicht vorverfolgt ausgereiste Kläger im Fall seiner Rückkehr einer eingehenden Befragung unterzogen wird, die mit verfolgungsrelevanten Methoden einhergeht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf: VG Berlin, Urteil vom 26.10.2020 - 6 K 1469.16 A - asyl.net: M29564; siehe auch: VG Hannover, Urteil vom 25.04.2019 - 11 A 12311/17 - asyl.net: M27230; VG Berlin, Urteil vom 12.03.2019 - 6 K 606.16 A - asyl.net: M28683)

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, BRP, Baloch Republican Party, Balutschistan, Aktivist, Nachfluchtgründe, Exilpolitik,
Normen: AsylG § 28 Abs. 1a, AsylG § 3, AsylG § 3a,
Auszüge:

[...]

dd) Nach der Erkenntnislage spricht Überwiegendes dafür, dass der pakistanische Staat für das Verschwindenlassen, die Tötung und Folter von belutschischen Aktivisten verantwortlich ist oder staatliche Akteure sich zumindest daran beteiligen. [...]

ee) Die Erkenntnismittel lassen den Schluss zu, dass die staatlich zurechenbaren Menschenrechtsverletzungen politisch motiviert und gegen die belutschische Nationalbewegung gerichtet sind.[...]

Human Rights Watch ging im Jahr 2011 davon aus, dass das Verschwindenlassen bei den meisten Opfern mit einer ihnen zugeschriebenen Verbindung zu belutschischen nationalistischen Parteien und Bewegungen wie der Baloch Republican Party, der Baloch National Front, dem Baloch National Movement und der Balochistan National Party stehe (vgl. Human Rights Watch, a.a.O., Juli 2011, S. 3, 30). [...]

Ergänzend ist hierzu anzuführen, dass auch nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes von bis zu 8.000 Personen, die vermisst werden, berichtet wird und dass eine Verstrickung staatlicher Stellen in vielen Fällen wahrscheinlich ist. Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung begehen Armee und Sicherheitskräfte v.a. in den Provinzen Belutschistan und Khyber-Pakhtunkhwa regelmäßig menschenrechtsrelevante Verbrechen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan vom 28.09.2021, Stand: Mai 2021, S. 6). Folter im Gewahrsam der Sicherheitskräfte gilt als weit verbreitet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan vom 28.09.2021, Stand: Mai 2021, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, vom 25.06.2021, S. 27 und 32). Trotz einer im Jahr 2009 von der Regierung angekündigten allgemeinen Amnestie für alle politischen  Gefangenen, Führer und Aktivisten im Exil sowie für diejenigen, die angeblich an "staatsfeindlichen" Aktivitäten beteiligt waren, geht die illegale Inhaftierung von belutschischen Führern und das Verschwindenlassen von belutschischen Bürgern weiter (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, vom 25.06.2021, S. 15 und 53). Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes für Fremdenwesen gehörten in den vergangen Jahren Menschenrechtsverteidiger, politische Aktivisten, Studenten und Journalisten, die außerhalb ihrer Gemeinschaften kaum bekannt waren, zu den Opfern des gewaltsamen Verschwindenlassens (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation, Pakistan, vom 25.06.2021, S. 32 und 53).

Zwar ist der Kläger nicht im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU vorverfolgt ausgereist. Er hat nicht zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft dargetan, dass er vor seiner Ausreise verfolgt wurde, oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war. [...]

Jedoch ist das Gericht davon überzeugt, dass ihm jedenfalls aufgrund seines Verhaltens im Bundesgebiet, das auch im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG als eine Fortsetzung seiner bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung anzusehen ist, bei einer Rückkehr Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Es ist zumindest davon auszugehen, dass es beachtlich wahrscheinlich ist, dass er im Falle seiner Rückkehr bei der Einreise einer eingehenden Befragung unterzogen wird, die die beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Anwendung verfolgungsrelevanter Methoden birgt.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts dargetan, dass er sich in der Bundesrepublik Deutschland an vielfältigen Aktionen beteiligt hat, die Kritik gegen den Pakistanischen Staat üben und u.a. dessen unzureichende Verfolgung der Fälle des sog. "Verschwindenlassens" anprangern, und dass dieses Verhalten den Sicherheitsbehörden auch bekannt geworden ist. Zudem ist er nach seiner Flucht Mitglied der seit 2012 in Pakistan verbotenen BRP geworden und hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft dargetan, dass der Wohnsitz seiner Familie in Karachi von Durchsuchungen seitens der Sicherheitskräfte betroffen war. [...]

Seinen Schilderungen über die Hausdurchsuchung in Karachi im Juni 2013 und weitere vermisste Familienangehörige stimmen im Wesentlichen mit den Angaben seiner Mutter gegenüber dem Verwaltungsgericht Göttingen (Az.: 2 A 281/18) überein, so dass davon auszugehen ist, dass jedenfalls die Familie des Klägers in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten ist. Damit hat der Kläger, u.a. als Bruder der Vermissten, bei einer Wiedereinreise entsprechend den oben angeführten Erkenntnissen jedenfalls mit einer eingehenden Befragung unter Anwendung menschenrechtswidriger Methoden zu rechnen (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 19.11.2021 – 2 A 281/18 –, Urteilsabdruck S. 8, Bl. 128R d.A.).

Sein Verhalten im Bundesgebiet stellt auch eine Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Klägers dar. Insoweit hat das Gericht aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, die sich in zeitlicher Hinsicht und nach den Geschehensabläufen mit seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt decken, diese Überzeugung gewonnen. Der Kläger gab in zeitlicher und örtlicher Hinsicht passend zu seinem Lebenslauf an, dass er bei seinem zweijährigen Aufenthalt in [...] die Probleme der belutschischen Bevölkerung unmittelbar wahrnehmen konnte. Dies habe seine Überzeugung gebildet. Nach seiner Rückkehr nach Karachi und der aus seiner Sicht fehlenden Sensibilisierung der dortigen Bevölkerung für die Probleme der Belutschen, insbesondere im Hinblick auf das sog. "Verschwindenlassen" von Personen, habe er aktiv werden wollen und begonnen, die BRP zu unterstützen, der er dann nach seiner Flucht offiziell beitrat. [...]