VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 26.10.2020 - 6 K 1469.16 A - asyl.net: M29564
https://www.asyl.net/rsdb/m29564
Leitsatz:

 Keine Flüchtlingsanerkennung für pakistanischen Staatsangehörigen aus Belutschistan:

1. Belutschen unterliegen in Pakistan keiner Gruppenverfolgung.

2. Auch ein eher niederschwelliges exilpolitisches Engagement führt in aller Regel nicht zu einer Verfolgungsgefahr. Dass Personen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus ausgerechnet vor der pakistanischen Botschaft demonstrieren - und damit die Aufmerksamkeit der Botschaftsmitarbeiter erregen - zeigt, dass sie selbst auch keine Gefahr für sich und ihre in Pakistan lebenden Angehörigen sehen.

3. Pakistan ist ein typisches Beispiel für einen mehrgesichtigen Staat, so dass zumindest für arbeitsfähige Menschen eine interne Fluchtalternative besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, Exilpolitik, interner Schutz, Nachfluchtgründe, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

24 b) Die flüchtlingsrechtlich relevante Lage in Belutschistan stellt sich im Hinblick auf die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel wie folgt dar (vgl. Urteile der Kammer vom 12. März 2019 – VG 6 K 606.16 A –, juris Rn. 26 ff. und vom 28. Mai 2019 – VG 6 K 829.17 A –, juris Rn. 28 ff.): [...]

26 Die Belutschen sind eine Volksgruppe mit einer nordwestiranischen Sprache. Bei der Volkszählung im Jahr 2017 gaben 54,76 % der Bewohner Belutschistans (etwa 6,8 Millionen Personen) Belutschisch als Muttersprache an. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung Pakistans betrug der Anteil der belutschischen Muttersprachler 3,57 % (etwa 7,4 Millionen Personen) (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Pakistan, Stand: 15. November 2018, S. 37, 106).

27 bb) Der Konflikt zwischen der belutschischen Bewegung und Pakistan besteht im Grundsatz seit Pakistans Unabhängigkeit im Jahr 1947. Die belutschischen Aktivisten begehren eine Abspaltung von Pakistan bzw. zumindest politische Autonomie sowie Einfluss über die Bodenschätze der rohstoffreichen und zugleich unterentwickelten Region, in der 80% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben (vgl. EASO, Country of Origin Information Report Pakistan, August 2015, S. 76; House of Commons Library Briefing Paper, Balochistan: Pakistan’s forgotten conflict, 2. Januar 2018, S. 2). Der Konflikt wird weiter geschürt durch Menschenrechtsverletzungen, die insbesondere belutschische Organisationen dem pakistanischen Staat vorwerfen (vgl. Baloch Human Rights Organization, Annual Report 2017, Januar 2018; Landinfo, Pakistan: Belutschen in Norwegen – kritische Äußerungen über das Verhältnis zu Pakistan [beglaubigte Übersetzung aus der norwegischen Sprache], 23. Januar 2019, S. 3).

28 Die belutschische Bewegung umfasst sowohl militante als auch moderate Gruppierungen. Als bewaffnete Aufständischengruppen werden vornehmlich die Balochistan Liberation Army (BLA), Baloch Republican Army (BRA), Lashkar-e-Balochistan und die Balochistan Liberation Front (BLF) genannt (vgl. BFA, a.a.O., 15. November 2018; EASO, Country of Origin Information Report, Pakistan, Security Situation, Oktober 2018, S. 31 f.). Die aktivste bewaffnete Gruppe, die für eine Abspaltung von Pakistan eintritt, soll die BLA sein, die im Jahr 1980 gegründet wurde und die sowohl in den USA als auch in der EU als terroristische Vereinigung verboten ist (vgl. House of Commons, a.a.O., 2. Januar 2018, S. 2). Zu den in Pakistan verbotenen Organisationen zählen: Balochistan Liberation Army (seit 2006), Balochistan Republican Army (September 2010), Baloch Republican Party Azad (August 2012), Balochistan United Army (August 2012), Balochistan National Liberation Army (August 2012), Baloch Student Organization Azad (März 2013) und die United Baloch Army (März 2013) (vgl. umfassend Home Office UK, Country Policy and Information Note. Pakistan: Security and humanitarian situation, including fear of militant groups, January 2019, S. 26 f.; AA, Auskunft an das VG Frankfurt [Oder], 21. August 2020, Anlage).

29 Das Baloch National Movement (BNM) zählt zu den unbewaffneten Gruppierungen. Es ist eine ethnisch belutschische politische Partei, die nach der Unabhängigkeit der belutschischen Provinz von Pakistan strebt. Es wird teilweise berichtet, das BNM verweigere die Teilnahme am politischen Prozess (vgl. Grare, a.a.O., 2013, S. 4). Zudem gibt es moderatere Kräfte wie die ethnisch belutschische Balochistan National Party (BNP), die nur eine größere Autonomie der Provinz Belutschistan anstrebt (vgl. Gare, a.a.O, S. 5) und bei den Parlamentswahlen 2018 vier Sitze in der Nationalversammlung erhielt (vgl. election.result.pk/bnp-balochistan-national-party-21; www.na.gov.pk/en/ members_listing.php?party=131).

30 Das Free Balochistan Movement (FBM) ist eine Gruppierung, die im Jahr 2016 in London gegründet wurde und die (jedenfalls vorrangig) außerhalb Pakistans tätig ist. (vgl. freebalochistanmovement.org/). Das FBM strebt ebenfalls nach der Unabhängigkeit der Provinz Belutschistan von Pakistan.

31 Seit dem Jahr 2004 hat sich der Konflikt in Belutschistan infolge von Operationen der pakistanischen Armee und des paramilitärischen Grenzkorps (Frontier Corps, F.C.) erneut verschärft (vgl. EASO, a.a.O., August 2015, S. 76.). Die Auseinandersetzung wird als schwach ausgeprägter Aufstand kategorisiert (vgl. USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2017 – Pakistan, April 2018, S.19; EASO, COI Meeting Report. Pakistan, Februar 2018, S. 20). Dabei kam es in den letzten Jahren nicht zu größeren Militäreinsätzen. Stattdessen enthalten die Erkenntnismittel beachtliche Anhaltspunkte für eine staatliche Repressionspolitik gegen separatistische Bestrebungen, in deren Zusammenhang zahlreiche Menschen entführt, gefoltert und extralegal getötet wurden (vgl. Grare, a.a.O, S. 10; UN, GA, Report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances on its mission to Pakistan, A/HR/22/45/Add.2, 26. Februar 2013, Ziffer 39; Antwort der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik vom 24. April 2013, ABl. EU vom 5. Dezember 2013, C 355 E/380; SATP, Balochistan: Assessment 2019, 27. Februar 2019, S. 1). Daneben ist die Sicherheitslage in Belutschistan von Angriffen militanter Aufständischer gegen moderate belutschische Parteien geprägt (vgl. zur BNP House of Commons, a.a.O., 2. Januar 2018, S. 2). Zudem verüben islamistische Gruppierungen im Norden Belutschistans Anschläge (vgl. SATP, a.a.O., 27. Februar 2019, S. 1). Teile von Belutschistan sind weiter nicht gänzlich unter staatlicher Kontrolle. Dies begünstigt neben Terrorismus auch Schmuggel sowie Menschen- und Drogenhandel (vgl. AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 20).

32 In diesem Umfeld sind Erkenntnisse zu Belutschistan vor Ort nur erschwert zu erlangen. Die Regierung und das Militär begrenzen häufig den Zugang zu Informationen und den physischen Zugang zu einigen Teilen Belutschistans. Dokumente in Verbindung zur belutschischen Bewegung sind in Pakistan verboten (vgl. AA, Auskunft an das BAMF, 6. Juni 2018, S. 3). In ganz Pakistan nehmen Militär und Nachrichtendienste (insbesondere der Militärgeheimdienst ISI) immer wieder Einfluss auf die mediale Berichterstattung (vgl. AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 8). Die Berichterstattung über verbotene belutschische Organisationen kann zu einer sechsmonatigen Haftstrafe führen. Zugleich droht Journalisten auch von Seiten belutschischer Aktivisten Gefahr (vgl. Comittee to Protect Journalists, Acts of Intimidation: In Pakistan, journalists‘ fear and censorship grow even as fatal violence declines, 12. September 2018; EASO, a.a.O., Februar 2018, S. 20; ai, Verschleppt in Karachi, 21. März 2018, S. 2; Tagesanzeiger: Der Dissident von Glattfelden, 31. März 2016; The Guardian, Balochistan: Pakistan’s information black hole, 4. Februar 2016). Sowohl für Menschenrechts- als auch für Hilfsorganisationen ist die Arbeit in der Provinz Belutschistan nur sehr eingeschränkt möglich (vgl. AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 7 f.).

33 cc) Wieviele Personen in Belutschistan bisher von Repressalien betroffen waren, geht aus den Erkenntnismitteln nicht eindeutig hervor. Bereits im Zeitpunkt des Besuchs der UN Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances im Jahr 2013 behaupteten einige Quellen, mehr als 14.000 Personen seien vermisst, während die Provinzregierung weniger als 100 Fälle anerkannt habe (vgl. UN, a.a.O., 26. Februar 2013, Ziffer 39). Auch aus jüngerer Zeit werden im Einzelnen unterschiedliche Fallzahlen berichtet. Hohe Zahlen gibt insbesondere die Baloch Human Rights Organization an, nach deren Feststellungen es im Jahr 2017 zu 516 Militäroperationen gekommen sei. Es seien 2.114 Personen aus Belutschistan und Sindh verschwunden. 545 Personen seien extralegal getötet worden, darunter 129 Personen von staatlichen Kräften bei Militäroperationen. 40 seien im Gewahrsam staatlicher Kräfte gefoltert und getötet worden. Zudem seien 92 verstümmelte Körper in verschiedenen Gebieten Belutschistans gefunden worden. 234 Personen seien im Jahr 2017 nach Ingewahrsamnahme wieder freigelassen worden (vgl. insgesamt BHRO, Annual Report 2017, Januar 2018, S. 1).

34 Wegen der divergierenden Informationen lässt sich zusammenfassend nur eine Größenordnung von zumindest hunderten und möglicherweise tausenden Fällen des Verschwindenlassens in den letzten Jahren feststellen. Zudem kam es zu einer Vielzahl von extralegalen Tötungen (vgl. Asian Human Rights Commission, Pakistan: Where are the 8,363 Balochis arrested in the last nine months?, 23. September 2015; BBC, Balochistan war: Pakistan accused over 1,000 dumped bodies, 28. Dezember 2016; HRCP, State of Human Rights in 2016, S. 70 f.; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2016 - Pakistan, 3. März 2017, S. 5; CRSS, Annual Security Report 2017, S. 35; BFA, a.a.O., 15. November 2018, S. 38; ai, Auskunft an das VG Braunschweig, 20. Februar 2019, S. 3).

35 dd) Nach der Erkenntnislage spricht Überwiegendes dafür, dass der pakistanische Staat für das Verschwindenlassen, die Tötung und Folter von belutschischen Aktivisten verantwortlich ist oder staatliche Akteure sich zumindest daran beteiligen (vgl. Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber [UK], Entscheidung vom 12. August 2016 – AA/01654/2015 –, Ziffer 9; BVGer [Schweiz], Urteil vom 4. Mai 2017 – E-4569/2013 –, Ziffer 6.3; AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 8).

36 Human Rights Watch geht nach einer detaillierten Untersuchung von 45 Fällen Verschwundener im Jahr 2011 davon aus, dass Entführungen belutschischer Nationalisten auf Militär, Geheimdienste und den F.C. zurückzuführen seien (vgl. Human Rights Watch, We Can Torture, Kill, or Keep You for Years – Enforced Disappearances by Pakistan Security Forces in Balochistan, Juli 2011, S. 32 ff.). Vergleichbare Zurechnungen unternehmen andere Nichtregierungsorganisationen (vgl. Amnesty International, Submission to the United Nations Human Rights Committee, 120th Session, 3.-28. Juli 2017, S. 13) und politologische Quellen (vgl. International Crisis Group, Policing Urban Violence in Pakistan, 23. Januar 2014, S. 17; SATP, a.a.O., 27. Februar 2019, S. 1). Der Bericht der United Nations Working Group on Enforced and Involuntary Disappearances stützt ebenfalls die Annahme, dass es sich um staatliches Vorgehen handelt. Danach blieb gerichtliches Vorgehen in Entführungsfällen überwiegend erfolglos. Zudem wird ein Beschluss des pakistanischen Supreme Court vom 12. Oktober 2012 zitiert, wonach die Sicherheitsbehörden einschließlich des F.C. sich nicht an der Aufklärung beteiligten, obwohl die klare Beweislage prima facie für eine Beteiligung des F.C. spreche (vgl. UN, a.a.O., Ziffer 57 ff.).

37 Das Auswärtige Amt führt aus, die Organisationen, die sich die Unabhängigkeit Belutschistans von Pakistan zum Ziel gesetzt hätten, handelten vom Ausland aus und in Belutschistan im Untergrund. Ihnen drohe als separatistisch eingestuften Gruppierungen Verfolgung seitens der pakistanischen Behörden und Sicherheitskräfte (vgl. AA, Auskunft an das VG Wiesbaden, 6. Juli 2017, S. 2). Von staatlichen Verfolgungsakteuren gehen auch andere staatliche Stellungnahmen aus (vgl. United States State Department, FY 2010 Report on Security Forces, Humanitarian Access, and Disappearances, 2010; House of Commons, a.a.O., 2. Januar 2018, S. 3, 5 f.).

38 ee) Die Erkenntnismittel lassen den Schluss zu, dass die staatlich zurechenbaren Menschenrechtsverletzungen politisch motiviert und gegen die belutschische Nationalbewegung gerichtet sind. Allerdings betreffen die berichteten Repressalien ganz überwiegend Aktivisten, die Mitglieder einer von Pakistan verbotenen Organisation waren, offizielle Funktionen in anderen Organisationen ausübten bzw. eine hervorgehobene Stellung hatten. [...]

41 Nach Auskunft der norwegischen Behörde Landinfo werden Personen, die in Verdacht gerieten, mit "militanten" belutschischen Separatisten zusammenzuarbeiten, mit großer Wahrscheinlichkeit in Pakistan verhaftet. Zugleich geht aus der Auskunft hervor, dass Demonstrationen zur belutschischen Menschenrechtsproblematik in Pakistan sowohl in als auch außerhalb Belutschistans veranstaltet werden. Die Erkenntnislage deute nicht darauf hin, dass Behörden Maßnahmen gegen individuelle Teilnehmer solcher Demonstrationen ergriffen. Etwas anderes könne bei profilierter, andauernder und/oder spezieller Kritik gelten (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 4). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes allgemein zu Pakistan müssen Institutionen und Menschen, die Kritik am Militär und an dessen Geheimdienst üben, mit Sanktionen rechnen (vgl. AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 8).

42 Weitgehender ist die Einschätzung von Amnesty International, wonach pakistanische Behörden Aktivisten, die sich für eine Ausweitung der Selbstbestimmung der Belutschen einsetzten oder Gerechtigkeit für Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure forderten, als "staatsfeindlich" betrachteten. Solche Aktivisten würden besonders häufig Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Offizielle Posten oder Funktionen in Bewegungen seien nicht erforderlich, um in Gefahr zu geraten (vgl. Amnesty International, a.a.O., 20. Februar 2019, S. 2; teilweise wortgleich bereits UA-181/2016-1, Wahid Baloch, 22. Dezember 2016, S. 2).

43 Für diese weitgehende Schlussfolgerung von Amnesty International vermisst das Gericht tragfähige Belege. Die seitens Amnesty International und in weiteren Erkenntnismitteln konkret genannten Fälle beziehen sich jedenfalls ganz überwiegend auf profilierte Aktivisten (vgl. zum Vorsitzenden der BSO-Azad Amnesty International, UA-132/2014, Zahid Baloch, Pakistan, 19. Mai 2014; BBC, Abduction of activist Zahid Baloch highlights Balochistan plight, 20. Mai 2014; zu einem Mitglied des Zentralausschusses BSOAzad Amnesty International, UA-232/2016, Shabbir Baloch, Pakistan, 11. Oktober 2016; zu bekannten Menschenrechtsaktivisten Amnesty International, UA-181/2016-1, Wahid Baloch, 22. Dezember 2016 sowie The Guardian, Murdered on the streets of Karachi: my friend who dared to believe in free speech, 27. April 2015). Soweit Amnesty International in der Auskunft vom 20. Februar 2019 drei belutschische Asylantragsteller in Deutschland anführt (Q... ), die bei ihrer Rückkehr festgenommen und teilweise gefoltert worden seien, sind diese Namen dem Bundesamt nicht bekannt (vgl. die als Erkenntnismittel eingeführte Stellungnahme des BAMF zum Verfahren VG 6 K 606.17, 28. November 2017). Unabhängig davon liegen keine genauen Erkenntnisse zu den Gründen der Festnahme vor. Die Angabe, pakistanische Sicherheitskräfte hätten ihre Familien bedroht und sie seien deswegen zurückgekehrt, spricht allerdings für eine hervorgehobene Stellung, da die Sicherheitskräfte aufgrund begrenzter Ressourcen eine Priorisierung vornehmen dürften. Selbst wenn die Rückkehrer bloße Mitläufer gewesen sein sollten, zeigt die öffentlichkeitswirksame Begleitung ihres Falles, dass es sich um wenige Einzelfälle handelt (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 4). [...]

45 aa) Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung bezüglich der belutschischen Volkszugehörigen sind offenkundig nicht erfüllt (vgl. VG Potsdam, Urteil vom 15. Januar 2019 – 11 K 2756/18.A –, juris Rn. 34; VG Berlin, Urteil vom 12. März 2019 – VG 6 K 606.16 A –, juris Rn. 47 ff.; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 11. Mai 2020 – 2 K 1995/18.A –, juris Rn. 39 ff.). Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bezüglich der Gesamtheit der 7,4 Millionen Personen mit belutschischer Muttersprache bzw. aller ethnischen Belutschen sind nicht erkennbar. Die staatlichen Maßnahmen knüpfen nicht an die ethnische bzw. sprachliche Zugehörigkeit an, sondern zielen auf die Bekämpfung separatistischer Bestrebungen und terroristischer Gewalt. Nicht die belutschische Volkszugehörigkeit, sondern politische Überzeugungen und Handlungen einzelner Personen und Gruppierungen sind für die staatlichen Maßnahmen bestimmend. Dem entspricht die Einschätzung des Auswärtigen Amtes, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung von Belutschistan hinter dem pakistanischen Staat steht (vgl. AA, Auskunft an das BAMF, 1. April 2019, zu Frage 7).

46 Ebenso wenig ist eine Verfolgung bezogen auf die Gesamtheit aller belutschischen Aktivisten feststellbar, schon weil diese keine Gruppe im Sinne einer Gruppenverfolgung darstellen. Die belutschische Bewegung umfasst ein breites Spektrum von militanten bis hin zu moderaten Organisationen mit divergierenden Zielsetzungen. Sie bekämpfen sich teilweise untereinander. Zudem wird die Bewegung von einzeln auftretenden Aktivisten getragen.

47 Jedenfalls fehlt es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Die Größenordnung der flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsschläge ist zu gering in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen. Dies gilt selbst dann, wenn Auskünfte zugrunde gelegt werden, die von tausenden Fällen des Verschwindenlassens und extralegaler Tötungen in den letzten Jahren ausgehen. Auch dann handelt es sich weiterhin nur um eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Keinesfalls ist jeder der ethnischen Belutschen oder politischen Aktivisten zwangsläufig von flüchtlingsrechtlich erheblicher Verfolgung betroffen. Das individuelle und anlassbezogene Vorgehen der Sicherheitsbehörden zeigt sich auch daran, dass Demonstrationen zugunsten der belutschischen Sache durchaus auch in Pakistan, sowohl in als auch außerhalb Belutschistans, stattfinden (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 4). [...]

65 d) Die Furcht des Klägers vor Verfolgung ist auch unter Berücksichtigung von Nachfluchtgründen wegen seines exilpolitischen Engagements nicht begründet.

66 aa) Die Erkenntnismittel belegen zur Überzeugung des Gerichts, dass Pakistan belutschische Bewegungen im Ausland beobachtet. Zugleich gibt es aber weiterhin keine Anhaltspunkte, dass alle exilpolitisch tätigen Belutschen bei einer Rückkehr nach Pakistan Repressalien ausgesetzt sind. Entscheidend ist, wie exponiert die Betätigung im Einzelfall ist.

67 [...] Entscheidend seien der Einzelfall, Art, Umfang sowie die Exponiertheit der aktivistischen Betätigung. Grundsätzlich scheine das Risiko höher, falls die politische Betätigung bereits vor der Ausreise aus Pakistan erfolgt sei. Es sei davon auszugehen, dass die pakistanische Regierung über umfassende nachrichtendienstliche Aufklärung die exilpolitische Betätigung der belutschischen Diaspora – auch in westlichen Staaten – sehr genau verfolge. Bei glaubhafter entsprechender Exponiertheit sei somit auch die Schaffung von Nachfluchtgründen nicht vollends auszuschließen (AA, Auskunft an das VG Frankfurt [Oder], 21. August 2020).

68 Demgegenüber gibt Amnesty International an, pakistanische Sicherheitskräfte und das Militär versuchten mit allen Mitteln, Informationen zu Aktivitäten auch von im Ausland wohnhaften Belutschen zu bekommen. Pakistanische Botschaften erkundigten sich nach politischen Aktivitäten von Belutschen im Ausland und versuchten, Einfluss auf deren Aktivitäten oder ihren Aufenthaltsort zu nehmen. Sie hätten deren Profile in den sozialen Medien beobachtet und bei Twitter die Löschung von Konten belutschischer Aktivisten, auch aus Deutschland, beantragt (vgl. Amnesty International, a.a.O., 20. Februar 2019, S. 4 f.).

69 Nach Auskunft von Landinfo ist davon auszugehen, dass der pakistanische Staat grundsätzlich in der Lage ist, seine Staatsangehörigen auch im Ausland zu überwachen (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 2). Der pakistanische Nachrichtendienst könne in Großbritannien Informationen über regierungskritische Aktivitäten sammeln (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 2). Laut Landinfo sei es jedoch wenig wahrscheinlich, dass pakistanische Behörden größere Kapazitäten darauf verwenden, die pakistanische Diaspora in Norwegen engmaschig zu verfolgen, wie dies dort etwa Eritrea oder Iran täten (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 2). Generell lägen keine Anhaltspunkte vor, dass zivile Belutschen, die sich im Ausland aufgehalten haben, in eine andere Situation gerieten, als zivile Belutschen in Belutschistan oder in anderen Provinzen (vgl. Landinfo, a.a.O., 23. Januar 2019, S. 4).

70 Das Gericht würdigt diese Erkenntnislage dahin, dass grundsätzlich nicht mit Verfolgungsmaßnahmen gegen Belutschen wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeiten in Deutschland zu rechnen ist. Die Beobachtung von exilpolitischen Unabhängigkeitsbestrebungen und die Identifizierung der im Bundesgebiet auftretenden Personen werden sich allenfalls auf besonders profilierte Aktivisten beschränken. Hierfür spricht die Auskunft von Landinfo, die auf Deutschland übertragbar erscheint. Zudem folgt dies bei einer lebensnahen Betrachtung aus den begrenzten Ressourcen pakistanischer Behörden, ihren in Deutschland eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und der sachnotwendigen Priorisierung. [...]

72 [...] Das Gericht vermag vor diesem Hintergrund den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass untergeordnetes, friedfertiges exilpolitisches Engagement bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Gefährdung führte.

73 Dies zeigt sich überdies an dem Demonstrationsverhalten der in Deutschland aktiven belutschischen Gruppierungen und deren Mitglieder und Sympathisanten. Wenn diese ausgerechnet vor der pakistanischen Botschaft demonstrieren und damit sogar eine besondere Aufmerksamkeit der Botschaftsmitarbeiter erzielen wollen, ist davon auszugehen, dass die Teilnehmer der Demonstration, die – wie der Kläger – nicht durchweg bereits einen sicheren Aufenthaltsstatus besitzen und mit einer Rückkehr nach Pakistan rechnen müssen, das Risiko einer Bedrohung durch pakistanische Sicherheitskräfte im Heimatland realistisch einschätzen und daher nicht von einer ihnen oder ihrer im Heimatland verbliebenen Familien tatsächlich drohenden Gefahr ausgehen. [...]

81 Danach kann der Kläger auf Ausweichmöglichkeiten verwiesen werden. Unter Abwägung des Profils des Klägers und der Erkenntnislage erscheint ein Ausweichen innerhalb Pakistans zumutbar.

82 Er könnte insbesondere in den pakistanischen Großstädten zumutbar Schutz finden. In Pakistan ist landesweite Freizügigkeit rechtlich gewährleistet, die Fläche des Landes sowie eine mit der Vielfalt und der Zahl der Bevölkerung von geschätzten 208 Millionen Menschen einhergehende Anonymität eröffnen interne Ausweichmöglichkeiten (vgl. Home Office, Country Information and Guidance - Pakistan: Background information, including actors of protection, and internal relocation, Juni 2017, Ziffer 13). Selbst Personen, die wegen Mordes von der Polizei gesucht werden, können in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben (vgl. AA, Lagebericht vom 29. September 2020, S. 19 f. sowie bzgl. eines belutschischen Aktivisten, AA, Auskunft an das VG Braunschweig, 12. November 2018, S. 1). Belutschen fallen in den pakistanischen Großstädten auch nicht aufgrund äußerer Merkmale auf, da die städtische Bevölkerung ohnehin alle Arten ethnischer Gruppen umfasst (vgl. AA, Auskunft an das Bundesamt, 1. April 2019).

83 Dass ihm außerhalb Belutschistans mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohte, ist nicht erkennbar. Berichte von Verschwindenlassen und anderen Repressalien der Sicherheitskräfte aus jüngerer Zeit betrafen das Vorgehen gegen politische und belutschische Aktivisten mit exponierter Stellung (vgl. HRW, World Report 2018 – Events 2017, S. 415; House of Commons, a.a.O., 2. Januar 2018, S. 6; Amnesty International, Auskunft an das VG Braunschweig, 20. Februar 2019, S. 3 f.). Es spricht nichts dafür, dass der Kläger sich bei Rückkehr aufgrund seiner politischen Überzeugungen in diesem Maße exponierte bzw. in hervorgehobener Art und Weise politisch betätigte.

84 Es ist auch davon auszugehen, dass er an möglichen Orten internen Schutzes eine ausreichende Lebensgrundlage finden könnte, die sein wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistete. [...]

85 Der Kläger ist gesund und erwerbsfähig und verfügt über familiäre Beziehungen in Pakistan. Er kann sich daher bei einer Rückkehr in ganz Pakistan eine Existenzgrundlage sichern, wenn auch ggf. nur auf niedrigem Niveau. [...]