VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 12.03.2019 - 6 K 606.16 A - asyl.net: M28683
https://www.asyl.net/rsdb/M28683
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für belutschischen Aktivisten aus Pakistan:

1. Belutschischen Aktivist*innen droht Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung, wenn sie sich in exponierter Weise in verbotenen Organisationen engagiert haben (hier: Baloch Student Organization und Baloch National Movement).

2. Der pakistanische Staat ist für Verschwindenlassen, Tötung und Folter belutschischer Aktivist*innen verantwortlich. Diese Handlungen sind politisch motiviert und gegen die belutschische Nationalbewegung gerichtet. Interner Schutz innerhalb des Landes ist nicht gegeben.

3. Personen belutschischer Volkszugehörigkeit unterliegen in Pakistan keiner Gruppenverfolgung.

(Leitsätze der Redaktion; ähnlich auch VG Trier, Urteil vom 05.11.2018 - 10 K 9081/17.TR - asyl.net: M28746, VG München, Urteil vom 14.12.2018 - M 23 K 17.31713 - asyl.net: M28707)

 

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, politische Verfolgung, Baloch Student Organization, Baloch National Movement, BSO, BNM, keine Gruppenverfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

26 2. Die flüchtlingsrechtlich relevante Lage in Belutschistan stellt sich im Hinblick auf die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel wie folgt dar:

27 a) Belutschistan im weiteren Sinne umfasst eine Fläche von etwa 500.000 km², die sich auf die Staatsgebiete Pakistans, Irans und Afghanistans aufteilt. [...]

28 Die Belutschen sind eine Volksgruppe mit einer nordwestiranischen Sprache. [...]

29 b) Der Konflikt zwischen der belutschischen Bewegung und Pakistan besteht im Grundsatz seit Pakistans Unabhängigkeit im Jahr 1947. [...]

30 Die belutschische Bewegung umfasst sowohl militante als auch moderate Gruppierungen. [...]

31 Die Baloch Student Organization ist eine Studentenorganisation. Ihre stärkste Fraktion ist die BSO-Azad, deren Mitglied der Kläger seinen Angaben zufolge während seines Studiums war. Sie ist eine radikale und seit dem Jahr 2013 verbotene Bewegung, die mit der seit dem Jahr 2006 verbotenen BLA assoziiert ist (vgl. Grare, Balochistan: The State Versus the Nation, Carnegie Endowment, 2013, S. 5; BVGer [Schweiz], Urteil vom 4. Mai 2017 – E-4569/2013 –, Ziffer 5.1). Das Baloch National Movement, das der Kläger nach seinem Vortrag unterstützt, zählt zu den unbewaffneten Gruppierungen. Es ist eine ethnisch belutschische politische Partei, die nach der Unabhängigkeit der belutschischen Provinz von Pakistan strebt. [...]

32 Seit dem Jahr 2004 hat sich der Konflikt in Belutschistan infolge von Operationen der pakistanischen Armee und des paramilitärischen Grenzkorps (Frontier Corps, F.C.) erneut verschärft (vgl. EASO, a.a.O., August 2015, S. 76.). [...]

35 c) Wieviele Personen in Belutschistan bisher von Repressalien betroffen waren, geht aus den Erkenntnismitteln nicht eindeutig hervor. [...]

36 Wegen der divergierenden Informationen lässt sich zusammenfassend nur eine Größenordnung von zumindest hunderten und möglicherweise tausenden Fällen des Verschwindenlassens in den letzten Jahren feststellen. [...]

37 d) Nach der Erkenntnislage spricht Überwiegendes dafür, dass der pakistanische Staat für das Verschwindenlassen, die Tötung und Folter von belutschischen Aktivisten verantwortlich ist oder staatliche Akteure sich zumindest daran beteiligen (vgl. Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber [UK], Entscheidung vom 12. August 2016 – AA/01654/2015 –, Ziffer 9; BVGer [Schweiz], Urteil vom 4. Mai 2017 – E-4569/2013 –, Ziffer 6.3). [...]

40 e) Die Erkenntnismittel lassen den Schluss zu, dass die staatlich zurechenbaren Menschenrechtsverletzungen politisch motiviert und gegen die belutschische Nationalbewegung gerichtet sind. Allerdings betreffen die berichteten Repressalien ganz überwiegend Aktivisten, die Mitglieder einer von Pakistan verbotenen Organisation waren, offizielle Funktionen in anderen Organisationen ausübten bzw. eine hervorgehobene Stellung hatten. [...]

46 3. Die Kammer ist unter Berücksichtigung dieser Erkenntnislage und aufgrund der Anhörung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb Pakistans befindet. Allerdings liegt keine Gruppenverfolgung vor (a). Jedoch ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung wegen seiner in Pakistan erlittenen Vorverfolgung begründet (b). [...]

48 Diese Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung bezüglich der belutschischen Volkszugehörigen sind offenkundig nicht erfüllt (vgl. VG Potsdam, Urteil vom 15. Januar 2019 – 11 K 2756/18.A –, juris Rn. 34). Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bezüglich der Gesamtheit der 7,4 Millionen Personen mit belutschischer Muttersprache bzw. aller ethnischen Belutschen sind nicht erkennbar. Die staatlichen Maßnahmen knüpfen nicht an die ethnische bzw. sprachliche Zugehörigkeit an, sondern zielen auf die Bekämpfung separatistischer Bestrebungen und terroristischer Gewalt. Nicht die belutschische Volkszugehörigkeit, sondern politische Überzeugungen und Handlungen einzelner Personen und Gruppierungen sind für die staatlichen Maßnahmen bestimmend. [...]

51 b) Der Kläger ist jedoch Flüchtling, weil er vorverfolgt aus Pakistan ausgereist ist. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass er sich als belutschischer Aktivist in Pakistan hervorgehoben engagiert hat und pakistanische Sicherheitskräfte ihn wegen seiner politischen Überzeugung verfolgten. [...]

63 Die Kammer hat aufgrund der Anhörung und der Erkenntnislage keinen Zweifel, dass die fehlgeschlagene Festnahme des Klägers und die Drohungen gegenüber seinen Eltern von staatlichen Akteuren ausgingen und wegen der politischen Überzeugung des Klägers im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG erfolgten. Unter den Umständen des konkreten Falls haben die Maßnahmen auch die Qualität von Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG. Das Schicksal der Cousins des Klägers und die in den Erkenntnismitteln beschriebene Praxis des Verschwindenlassens und der extralegalen Tötungen belegen, dass dem Kläger eine schwere Verletzung der Menschenrechte, insbesondere des notstandsfesten Folterverbots aus Art. 3 EMRK, unmittelbar drohte. Soweit das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid (S. 4) darauf abstellt, der F.C. habe seinen Cousin an die Polizei ausgeliefert und dieser sei nach einem Gerichtsprozess freigelassen worden, übergeht dies, dass der Cousin nach der zweiten Festnahme tot aufgefunden wurde. Aus Sicht der Kammer liegt nahe, dass die Sicherheitskräfte den Weg der extralegalen Tötung des Aktivisten wählten, nachdem der justizielle Weg zum Freispruch geführt hatte. [...]