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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 06.12.2021 - 3 B 777/21 - asyl.net: M30361
https://www.asyl.net/rsdb/m30361
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz und "Duldung light" bei Patchwork-Familie:

1. Bei Patchwork-Familien sind, insbesondere wenn ein deutsches Familienmitglied mitbetroffen ist, die sich daraus ergebenden Besonderheiten zu beachten. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt einwanderungspolitische Belange dann zurück, wenn das Familienleben nur in Deutschland möglich ist. Führt eine behördlich verfügte Aufenthaltsbeendigung gegenüber einem Familienmitglied dazu, dass das deutsche Kind Deutschland mit der gesamten Familiengemeinschaft verlassen muss oder verfassungsrechtlich geschützte familiäre Bindungen zwischen den Mitgliedern der „Patchwork-Familie“ beeinträchtigt oder zerstört würden, ist dies besonders zu berücksichtigen

2. Bei der Frage der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität (§ 60b AufenthG) fehlt es an der notwendigen Kausalität zwischen dem Verhalten/Unterlassen der betroffenen Person und dem Abschiebungshindernis, wenn neben der Passlosigkeit noch selbständige andere Duldungsgründe eingreifen (hier: familiäre Gründe). Die Anwendungshinweise des BMI vom 14.04.2020 (asyl.net: M28354), die die Erteilung der Duldung nach § 60b AufenthG unabhängig davon für anwendbar erklären, ob andere Duldungsgründe gegeben sind, gehen zu weit und sind mit dem Wortlaut der Norm nicht vereinbar.

(Leitsätze der Redaktion; hinsichtlich der Duldung nach § 60b AufenthG im Anschluss an: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.06.2021 - 13 PA 96/21 (Asylmagazin 9/2021, S. 350 f.) - asyl.net: M29784)

Schlagwörter: Duldung, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, rechtliche Unmöglichkeit, Abschiebung, familiäre Lebensgemeinschaft, Patchworkfamilie, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, deutsches Kind, Patchwork-Familie,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 60b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

14 Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Antragsteller wegen der besonderen familiären Situation (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) ein Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zusteht und weiter, ob die Durchführung des Visumverfahrens und die Rückkehr nach Guinea zur Passerlangung zumutbar wäre.

15 Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 16.02.2021 - 3 B 1049/20 -, juris ausgeführt:

16 "Im Fall von Patchwork-Familien sind, insbesondere wenn ein deutsches Familienmitglied mitbetroffen ist, die sich daraus ergebenden Besonderheiten zu beachten. Dabei drängt die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie einwanderungspolitische Belange erst dann zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa, weil besondere Umstände demjenigen Mitglied dieser Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Verlassen des Bundesgebiets unzumutbar machen. Handelt es sich bei diesem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (BVerfG, Beschlüsse vom 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81 <93>; vom 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83, 101, 313/84 -, BVerfGE 76, 1 <46 ff.>; vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 -, AuAS 2013, 160; vom 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 -, InfAuslR 2008, 347 und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 -, InfAuslR 2006, 320). Die Besonderheiten, die sich aus einer als "Patchwork-Familie" bezeichneten familiären Konstellation ergeben, müssen sorgfältig ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Auch die außerhalb der "Patchwork-Familie" stehenden leiblichen Elternteile der minderjährigen Familienangehörigen sind in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 15.12 -, juris Rdnr. 15). Führt eine behördlich verfügte Aufenthaltsbeendigung eines Antragstellers dazu, dass entweder das deutsche Kind die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit der gesamten Familiengemeinschaft verlassen muss oder dass verfassungsrechtlich geschützte familiäre Bindungen zwischen den Mitgliedern der "Patchwork-Familie" beeinträchtigt oder zerstört würden, ist dies im Lichte von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 EMRK besonders zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.07.2013, a.a.O., Rdnr. 18; Hess. VGH, Beschluss vom 16.02.2021 - 3 B 1049/20 -, juris Rdnr. 39)."

17 Hieran hält der Senat fest, so dass auch hier eine im Raum stehende längere oder gar endgültige Trennung des Antragstellers von seiner Familie unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Kindeswohls ein aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgendes rechtliches Abschiebehindernis begründet, ohne dass dabei die sich aus Art. 20 AEUV zusätzlich ergebenden Aspekte eingestellt sind (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 11.03.2021 - C-112/20 -, juris Rdnr.41).

18 Der Antragsteller hat auch durch die eidesstattliche Versicherung seiner Lebensgefährtin vom 19.02.2021 (Blatt 6 Gerichtsakte) hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihm die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nach den genannten Maßstäben zusteht.

19 Dieser Anspruch wird auch nicht durch die Regelungen des § 60b AufenthG ausgeschlossen.

20 Wie das Niedersächsische OVG in dem von dem Bevollmächtigten des Antragstellers zitierten Beschluss vom 23.06.2021 (13 PA 96/21, juris) zutreffend ausgeführt hat, fehlt es an der in beiden Alternativen des § 60b Abs. 1 AufenthG notwendigen Kausalität eines positiven Tuns oder Unterlassens des Ausländers "für das Abschiebungshindernis", wenn neben dem inlandsbezogenen Vollstreckungshindernis "Passlosigkeit" noch selbständige andere Duldungsgründe eingreifen, auf deren Bestehen ein in § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG genanntes Verhalten oder Unterlassen nicht von Einfluss ist; in derartigen Fällen besteht kein Raum für den Zusatz nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Dies hat gerade für das Vorliegen von Abschiebehindernissen nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu gelten, die nicht (nur) den Rechtskreis des ausreisepflichtigen Ausländers sondern auch und insbesondere den der minderjährigen Kinder, insbesondere des in der Familie lebenden deutschen Kindes betreffen. Die Anwendungshinweise des BMI zu § 60b AufenthG, die die Erteilung einer Duldung "light" unabhängig davon für anwendbar erklären, ob dem betreffenden Ausländer andere Duldungsgründe zur Seite stehen, sind als zu weitgehend und mit dem Wortlaut der Vorschrift des § 60b AufenthG nicht vereinbar anzusehen. [...]

25 Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die Durchführung des Visumverfahrens im Fall des Antragstellers nach den oben gemachten Ausführungen zum Vorliegen eines rechtlichen Abschiebungshindernisses aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK unzumutbar im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. AufenthG.

26 Unter Berücksichtigung der besonderen familiären Situation des Antragstellers ist eine sich mehrere Monate oder Jahre hinziehende Abwesenheit des Antragstellers, die zudem die Ausbildung und Berufstätigkeit seiner Lebensgefährtin, die eine Weiterbildungsmaßnahme zur Altenpflegerin absolviert, nicht hinnehmbar; aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 6 GG und Art. 8 EMRK) kann keinem Mitglied der Patchwork-Familie eine Ausreise nach Guinea zugemutet werden.

27 Dem deutschen Kind C, geboren am …, kann zudem nicht angetragen werden, das Bundesgebiet gemeinsam mit seiner Mutter, dem Antragsteller und den beiden anderen Kindern zu verlassen und nach Guinea überzusiedeln.

28 Nach der mithin vorzunehmenden Güterabwägung zwischen den im Raum stehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen des Antragstellers, der beiden Kinder mit gefestigten Aufenthaltsrechten sowie dem Kind deutscher Staatsangehörigkeit einerseits und den Anforderungen an die Durchführung eines Visumverfahrens andererseits kommt der Senat zu dem Ergebnis, die Antragsgegnerin bzw. den Beigeladenen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu verpflichten, und zwar antragsgemäß zeitlich begrenzt bis zum Abschluss des Klageverfahrens 4 K 692/21.KS. [...]