OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.06.2021 - 13 PA 96/21 (Asylmagazin 9/2021, S. 350 f.) - asyl.net: M29784
https://www.asyl.net/rsdb/m29784
Leitsatz:

Keine "Duldung light" während Durchführung eines Härtefallverfahren:

Die Annahme einer Härtefalleingabe zur Beratung an die Härtefallkommission beseitigt die gemäß § 60b AufenthG erforderliche Kausalität zwischen der Unmöglichkeit der Abschiebung und einer von der betroffenen Person zu vertretenden ungeklärten Identität bzw. der Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung. Für die Erteilung dieser Duldung ist Voraussetzung, dass neben der Passlosigkeit kein weiterer selbstständiger Duldungsgrund greift. Befindet sich eine Person jedoch im Härtefallverfahren, ist dies der Fall.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch OVG Niedersachsen, Beschluss vom 09.06.2021 - 13 ME 587/20 - asyl.net: M29697)

Schlagwörter: Duldung, Härtefallkommission, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Beschäftigungserlaubnis, Identitätsklärung, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Kausalität,
Normen: NHärteKVO § 5 Abs. 4 Satz 2, AufenthG § 23a Abs. 2 Satz 1, AufenthG § 60b Abs. 1 Satz 1,
Auszüge:

[...]

5 Nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer die Duldung im Sinne des § 60a (Abs. 2 Satz 1) AufenthG (nur dann) mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt, wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt (1. Alt.) oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht vornimmt (2. Alt.).

6 Wie der Senat bereits im Beschluss vom 9.6.2021, a.a.O., Rn. 49, ausgeführt hat, fehlt es an der in beiden Alternativen notwendigen Kausalität eines positiven Tuns oder Unterlassens des Ausländers "für das Abschiebungshindernis", wenn neben dem inlandsbezogenen Vollstreckungshindernis "Passlosigkeit" noch selbständige andere Duldungsgründe eingreifen, auf deren Bestehen ein in § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG genanntes Verhalten oder Unterlassen nicht von Einfluss ist; in derartigen Fällen besteht kein Raum für den Zusatz nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, schon weil der damit beabsichtigte Druck auf den vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, im Interesse seiner Aufenthaltsbeendigung durch Aufgabe einer Identitäts- oder Staatsangehörigkeitstäuschung oder durch Vornahme von Mitwirkungshandlungen die Beschaffung von Rückreisedokumenten zu ermöglichen (a.a.O.), jeden Sinn verlöre. Die im dort entschiedenen Parallelfall (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2021, a.a.O., Rn. 55) noch offengelassene Frage, ob auch die Annahme einer Härtefalleingabe zur Beratung in der Nds. Härtefallkommission und die daraufhin mit Erlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport nach § 23a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 5 Abs. 4 Satz 2 NHärteKVO angeordnete Aussetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zu einer Entscheidung über die Eingabe in gleicher Weise die Kausalität eines positiven Tuns oder Unterlassens des Antragstellers für eine misslingende Aufenthaltsbeendigung im Sinne des § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG beseitigen, bejaht der Senat nunmehr ausdrücklich.

7 Auch in diesen Fällen geht der beschriebene Druck auf den vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer in der genannten Phase zwischen Annahme der Härtefalleingabe zur Beratung (mit zugehöriger Aussetzung von Rückführungsmaßnahmen) und der Entscheidung hierüber, ob die Nds. Härtefallkommission ein Härtefallersuchen im Sinne des § 23a Abs. 1 Satz 1 AufenthG an das Nds. Ministerium für Inneres und Sport als oberste Landesausländerbehörde richtet, ins Leere, weil dann zeitweise eine Aufenthaltsbeendigung aus dem selbständigen gesetzlich vorgesehenen Grund der Durchführung eines auf inhaltliche Prüfung der Eingabe gerichteten Härtefallverfahrens (vgl. § 23a Abs. 2 Satz 4 AufenthG) ohnehin nicht stattfinden darf.

8 Dem steht nicht entgegen, dass nach § 23a Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Befugnis des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport zur Aufenthaltsgewährung nach § 23a Abs. 1 Satz 1 AufenthG (durch Anordnung der Erteilung einer besonderen Aufenthaltserlaubnis nach einem Härtefallersuchen der Nds. Härtefallkommission unter weiteren Voraussetzungen) ausschließlich im öffentlichen Interesse besteht und keine eigenen (subjektiven öffentlichen) Rechte des Ausländers begründet, dass die Nds. Härtefallkommission gemäß § 23a Abs. 2 Satz 2 AufenthG ausschließlich im Wege der Selbstbefassung tätig wird, dass Dritte gemäß § 23a Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht verlangen können, dass die Nds. Härtefallkommission sich mit einem bestimmten Einzelfall befasst oder eine bestimmte Entscheidung trifft, und dass auch kein gerichtlich durchsetzbares subjektives öffentliches Recht des betroffenen Ausländers auf Annahme seiner Härtefalleingabe zur Beratung in der Nds. Härtefallkommission unter Beachtung der Vorschriften der NHärteKVO anzuerkennen ist, das heißt der Ausländer diese nicht beanspruchen kann (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 21.2.2018 - 13 ME 56/18 -, juris Rn. 9; Nds. OVG, Beschl. v. 25.9.2012 - 8 PA 181/12 -, juris Rn. 5). Denn wenn die Annahme einer Härtefalleingabe, wie hier derjenigen des Antragstellers Nr. 2020/0212 vom 14. April 2020, zur Beratung in der Nds. Härtefallkommission einmal tatsächlich erfolgt ist und deshalb auch gemäß § 5 Abs. 4 Satz 2 NHärteKVO die vorläufige Aussetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zur Entscheidung über die Härtefalleingabe angeordnet worden ist, wie dies hier mit Erlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 24. August 2020 – 64.99 - 12230/1-8 (§23a) 2020/0212 – (Bl. 182 f. der Ausländerakte) geschehen ist, so dürfen diese Umstände auch für Zwecke des § 60b Abs. 1 AufenthG nicht "hinweggedacht" werden.

9 Der zutreffende Befund, dass die gesetzlichen Mitwirkungsverpflichtungen zur Klärung der Identität und Staatsangehörigkeit sowie zur Pass(ersatzpapier)beschaffung auch im Härtefallverfahren unberührt bleiben, ändert nichts an der mit der Anordnung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 NHärteKVO bewirkten Unterbrechung der von § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG geforderten Kausalitätsbeziehung. Ebenso wenig ist es von Belang, dass der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, dessen Härtefalleingabe zur Beratung in der Nds. Härtefallkommission angenommen worden ist, perspektivisch zu gewärtigen hat, dass in deren Entscheidung über die Eingabe (= für oder gegen die Stellung eines Härtefallersuchens) ebenso wie (im Falle der Stellung eines Härtefallersuchens) in die Entscheidung des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport für oder gegen die Anordnung der Erteilung einer besonderen Aufenthaltserlaubnis nach § 23a Abs. 1 Satz 1 AufenthG einfließen kann, inwieweit seine Identität und Staatsangehörigkeit geklärt sind und er an der Pass(ersatzpapier)beschaffung mitgewirkt hat; denn dies betrifft allenfalls die "Erfolgsaussichten" seiner Eingabe in späteren Phasen des Härtefallverfahrens, die hier noch nicht erreicht sind (vgl. auch § 6 NHärteKVO). [...]