VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 05.08.2021 - 3 L 227/21 A - asyl.net: M29936
https://www.asyl.net/rsdb/m29936
Leitsatz:

Kein unbeachtlicher Zweitantrag nach Widerruf der Flüchtlingseigenschaft in Dänemark:

1. Dänemark ist nicht an die Qualifikations- und Verfahrensrichtlinie gebunden.

2. Deshalb darf ein Asylantrag nicht als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt werden, weil zuvor in Dänemark erfolglos ein Asylverfahren in Dänemark betrieben oder ein zunächst bewilligter Schutzstatus in Dänemark widerrufen wurde.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 20.05.2021 - C-8/20 L.R. gegen Deutschland - asyl.net: M29661; ebenso Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 27.07.2021 - A 1 K 2775/19 - asyl.net: M29927)

Schlagwörter: Dänemark, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Zweitantrag, Unzulässigkeit, Zulässigkeit, EuGH, Drittstaat, GEAS, Asylverfahrensrichtlinie, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71a Abs. 1 AsylG liegt ein Zweitantrag vor, wenn der Ausländer seinen Asylantrag im Bundesgebiet nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sichereren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den die Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, gestellt hat. Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 -, juris Rn. 29 f. unter Bezugnahme auf BT-Drs. 12/4450, S. 27).

Zwar hat die Antragstellerin in Dänemark ein Asylverfahren durchlaufen, an dessen Ende die dänischen Asylbehörde am 20. Februar 2019 rechtskräftig den zunächst bewilligten asylrechtlichen Schutz widerrufen hat.

Es bestehen jedoch ernstliche Zweifel, ob es sich bei einer dänischen Asylentscheidung um eine bestandskräftige Entscheidung i.S.d. Art. 2 e) der RL 2013/32/EU handelt, was indes Voraussetzung für die Ablehnung des Asylantrags der Antragstellerin als unzulässig wäre.

Denn Dänemark dürfte vor dem Hintergrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 20. Mai· 2021 (Cs-8/20, Entscheidungen des EuGH zitiert nach www.curia.europa.eu) kein "sicherer Drittstaat, für den die Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft ( ... ) gelten'' mehr sein. Mit dem angeführten Urteil hat der Europäische Gerichtshof sinngemäß entschieden, dass Art. 33 Abs. 2 d) der RL 2013/32/EU der Anwendung des§ 71a AsylG in jenen Fällen entgegensteht, in denen der Ausländer zuvor erfolglos einen Asylantrag in Norwegen oder Island gestellt hat. Zur Begründung führt der Europäische Gerichtshof aus (EuGH, C-8/20, Rn. 32-41; 46-47):

"Dem vorlegenden Gericht zufolge kann es allenfalls nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 gerechtfertigt sein, einen Antrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als unzulässig abzulehnen. [...]

Eine von einem Drittstaat getroffene Entscheidung kann indessen nicht unter diese Definition fallen. Die Richtlinie 2011/95, die an die Mitgliedstaaten gerichtet ist und keine Drittstaaten betrifft, beschränkt sich nämlich nicht darauf, die Flüchtlingseigenschaft vorzusehen, wie sie im Völkerrecht, nämlich in der Genfer Flüchtlingskonvention, verankert ist, sondern sie regelt auch den subsidiären Schutzstatus, der, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft ergänzt.

In Anbetracht dessen ergibt sich - unbeschadet der davon zu unterscheidenden Frage, ob der Begriff "Folgeantrag" auf einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat gestellt wird, nachdem ein anderer Mitgliedstaat einen früheren Antrag durch eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt hat - aus der Gesamtbetrachtung der Buchst. b, e und q von Art. 2 der Richtlinie 2013/32, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz nicht als "Folgeantrag" eingestuft werden kann, wenn er gestellt wird, nachdem ein Drittstaat dem Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt hat.(...)

Selbst wenn man davon ausginge, dass das norwegische Asylsystem, wie das vorlegende Gericht ausführt, ein Schutzniveau für Asylbewerber vorsieht, das dem in der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Niveau gleichwertig ist, könnte dies zu keinem anderen Ergebnis führen.

Abgesehen davon, dass sich aus dem eindeutigen Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 ergibt, dass es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht zulässig. ist, einen Drittstaat für die Zwecke der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie einem Mitgliedstaat gleichzustellen, kann eine solche Gleichstellung, da andernfalls die Rechtssicherheit beeinträchtigt wäre, nicht von einer Bewertung des konkreten Schutzniveaus für Asylbewerber im betreffenden Drittstaat abhängen."

Diese für Norwegen und Island getroffenen Erwägungen treffen auch auf Dänemark zu. Denn Dänemark beteiligt sich gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 22 weder an der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (s. dort Erwägungsgrund 34), noch an der Richtlinie 2013/32/EU Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (s. dort Erwägungsgrund 59) noch an der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (dort Erwägungsgrund 51). Die genannten Richtlinien entfalten gegenüber Dänemark daher keine Rechtswirkungen. Dies gilt gemäß Erwägungsgrund 42 auch für die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ("Dublin III-VO").

Dementsprechend kann ein in Dänemark gestellter Antrag auf internationalen Schutz wie im Falle Norwegens und Islands kein Antrag im Sinne von Art. 2 Buchst. b der RL 2013/32/EU sein. Denn ein solcher Antrag muss nach seiner Definition (auch} auf die Gewährung des subsidiären Schutzstatus im Sinne der RL 2011/95/EU gerichtet sein und vom Mitgliedstaat aufgrund dieser Richtlinie geprüft werden.

Unbeachtlich ist nach dem insoweit klaren Verdikt des Europäischen Gerichtshofs, ob Dänemark dennoch über ein vergleichbares Schutzniveau verfügt. [...]