Für palästinensische Flüchtlinge gilt: Wer den Schutz des UNRWA genießt, kann nicht als Flüchtling anerkannt werden. Dieser Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung ist beendet, wenn der Schutz des UNRWA nicht länger gewährt wird, etwa weil es ihm unmöglich ist, seine Aufgabe zu erfüllen. Eine bloße Abwesenheit vom Einsatzgebiet des UNRWA oder dessen freiwilliges Verlassen genügt jedoch nicht, um den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung zu beenden. Wer aber gezwungen war, das Einsatzgebiet zu verlassen, fällt ohne Weiteres unter den Schutz der Qualifikationsrichtlinie. Davon, dass ein palästinensischer Flüchtling gezwungenermaßen das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen hat, ist auch dann auszugehen, wenn er sich in einer sehr unsicheren Lage befindet und es der Organisation unmöglich ist, Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe im Einklang stehen.
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66 Vorab ist in Bezug auf die erste Frage hervorzuheben, dass die Richtlinie 2004/83, im Gegensatz zur Genfer Konvention, die nur die Flüchtlingseigenschaft regelt, zwei unterschiedliche Schutzregelungen vorsieht, nämlich zum einen die Flüchtlingseigenschaft und zum anderen den durch den subsidiären Schutz gewährten Status, wobei nach Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz eine solche ist, die "die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt".
67 Daher ist die Wendung "genießt … den Schutz dieser Richtlinie" in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 als Verweis allein auf die Flüchtlingseigenschaft aufzufassen, da sonst dieser Unterschied zwischen dem durch die Genfer Konvention und dem durch diese Richtlinie gewährten Schutz verkannt würde; diese Bestimmung geht nämlich auf Art. 1 Abschnitt D der Genfer Konvention zurück, in deren Licht diese Richtlinie auszulegen ist.
68 Außerdem schließt Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 dadurch, dass er sich allein auf die Flüchtlingseigenschaft bezieht, niemanden vom subsidiären Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie aus, und deren Art. 17, der die Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutz aufführt, nimmt in keiner Weise auf die Gewährung des Schutzes oder Beistands einer Organisation wie des UNRWA Bezug.
69 Aufgrund dieser Vorbemerkungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass das Tatbestandsmerkmal "genießt … den Schutz dieser Richtlinie" bedeutet, dass der Betroffene automatisch einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling hat oder nur dann, wenn er vom persönlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie erfasst wird.
70 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass zum einen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 vorsieht, dass der Betroffene, sofern die dort aufgeführten Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, "ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [genießt]" und dass zum anderen Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Konvention bestimmt, dass im gleichen Fall diese Personen "ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens [fallen]", wobei eine der verbindlichen Sprachfassungen lautet "shall ipso facto be entitled to the benefits of this Convention".
71 Die Wendung "genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie" ist im Einklang mit Art. 1 Abschnitt D Abs. 2 der Genfer Konvention auszulegen, also dahin, dass der Betroffene "ipso facto" in den Genuss der Regelung dieser Konvention und der durch sie gewährten "Vergünstigungen" gelangt.
72 Daher kann sich der Anspruch, der sich daraus ergibt, dass der Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird und der Ausschlussgrund entfällt, nicht auf die bloße Möglichkeit des Betroffenen beschränken, die Anerkennung als Flüchtling auf der Grundlage von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 zu beantragen, da diese Möglichkeit bereits den Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen offensteht, die sich im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten befinden.
73 Die Klarstellung am Ende von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83, wonach der Betroffene "ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [genießt]", wäre überflüssig und hätte keine praktische Wirksamkeit, wenn sie keine andere Bedeutung hätte, als daran zu erinnern, dass sich die Personen, die nicht mehr durch Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sind, auf die Bestimmungen dieser Richtlinie berufen können, um zu erreichen, dass ihr Antrag auf Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie geprüft wird.
74 Ferner geht aus dem vollständigen Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 hervor, dass die dort genannten Personen, sobald ihre Lage endgültig geklärt worden ist, als Flüchtlinge anerkannt werden können, wenn sie aus irgendeinem Grund im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie verfolgt werden. Ist dagegen, wie dies in den Ausgangsverfahren der Fall ist, die Lage der Betroffenen nicht geklärt worden, obwohl ihnen aus einem von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger Beistand gewährt wird, hat der Umstand, dass sie in dieser spezifischen Situation "ipso facto den Schutz dieser Richtlinie [genießen]", notwendigerweise eine weiter gehende Bedeutung als die, die sich aus dem bloßen Umstand ergibt, nicht von der Möglichkeit der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen zu sein, wenn sie die in Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllen.
75 In diesem Zusammenhang muss jedoch klargestellt werden, dass der Umstand, dass eine Person im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie ipso facto deren Schutz genießt, wie die ungarische und die deutsche Regierung zutreffend ausgeführt haben, keinen bedingungslosen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling begründet.
76 So braucht zwar, wer berechtigt ist, ipso facto den Schutz der Richtlinie 2004/83 zu genießen, nicht notwendigerweise nachzuweisen, dass er Verfolgung im Sinne von deren Art. 2 Buchst. c fürchtet, er muss jedoch, wie dies im Übrigen die Kläger des Ausgangsverfahrens getan haben, einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellen, der von den zuständigen Behörden des zuständigen Mitgliedstaats zu prüfen ist. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese nicht nur untersuchen, ob der Antragsteller tatsächlich den Beistand des UNRWA in Anspruch genommen hat (vgl. hierzu Urteil Bolbol, Randnr. 52) und dieser Beistand nicht länger gewährt wird, sondern auch, ob bei diesem Antragsteller nicht einer der Ausschlussgründe in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie vorliegt.
77 Hinzu kommt noch, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2004/83 in Verbindung mit deren Art. 14 Abs. 1 dahin auszulegen ist, dass die Flüchtlingseigenschaft des Betroffenen erlischt, wenn er – nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist – in der Lage ist, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (vgl. hierzu entsprechend Urteil vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Slg. 2010, I-1493, Randnr. 76).
78 Schließlich ist klarzustellen, dass die sich aus den Randnrn. 70 bis 76 des vorliegenden Urteils ergebende Auslegung der Wendung "genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie" entgegen dem Vorbringen mehrerer Regierungen, die in der vorliegenden Rechtssache vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, keine durch den in Art. 20 der Charta verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz verbotene Diskriminierung bewirkt.
79 Da sich Asylbewerber, die eine begründete Furcht vor Verfolgung haben müssen, damit sie als "Flüchtling" im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 anerkannt werden können, in einer anderen Situation als Personen befinden, die, wie die Kläger des Ausgangsverfahrens, den Beistand des UNRWA erhalten haben, bevor sie dessen Einsatzgebiet verließen und in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag stellten, verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht, dass sie mit denen gleichbehandelt werden, die wie die Kläger des Ausgangsverfahrens diesen Beistand in Anspruch genommen haben.
80 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Unterzeichnerstaaten der Genfer Konvention in Anbetracht der besonderen Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Jahr 1951 ausdrücklich beschlossen haben, ihnen die Sonderbehandlung nach Art. 1 Abschnitt D dieser Konvention zu gewähren, auf die Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/ 83 verweist.
81 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass dann, wenn die zuständigen Behörden des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgestellt haben, dass die Voraussetzung, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, beim Antragsteller erfüllt ist, der Umstand, dass er ipso facto "den Schutz dieser Richtlinie [genießt]", für den Antragsteller die Anerkennung als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Rechts wegen durch diesen Mitgliedstaat nach sich zieht, sofern er nicht von Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie erfasst wird. [...]
1. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass sich der Wegfall des Schutzes oder des Beistands einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (HCR) "aus irgendeinem Grund" auch auf die Situation einer Person bezieht, der, nachdem sie diesen Schutz oder Beistand tatsächlich in Anspruch genommen hatte, dieser aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden des für die Prüfung des von einer solchen Person gestellten Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats, auf der Grundlage einer individuellen Bewertung des Antrags zu prüfen, ob diese Person gezwungen war, das Einsatzgebiet dieser Organisation oder dieser Institution zu verlassen, was dann der Fall ist, wenn sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand und es der betreffenden Organisation oder Institution unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der dieser Organisation oder dieser Institution obliegenden Aufgabe im Einklang stehen.
2. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass dann, wenn die zuständigen Behörden des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgestellt haben, dass die Voraussetzung, dass der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht länger gewährt wird, beim Antragsteller erfüllt ist, der Umstand, dass er ipso facto "den Schutz dieser Richtlinie [genießt]", für den Antragsteller die Anerkennung als Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c dieser Richtlinie und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Rechts wegen durch diesen Mitgliedstaat nach sich zieht, sofern er nicht von Art. 12 Abs. 1 Buchst. b oder Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie erfasst wird.