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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.05.2021 - A 4 S 468/21 - asyl.net: M29598
https://www.asyl.net/rsdb/m29598
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für Militärdienstentzieher aus Syrien:

"[1.] Auch bei Zugrundelegung der rechtlichen Vorgaben des EuGH-Urteils "EZ" vom 19.11.2020 in der Rechtssache C-238/19 kann einer Person aus der Gruppe der einfachen Militärdienstentzieher aus Syrien die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG weiterhin nur dann zuerkannt werden, wenn in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen, eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar ist.

[2.] Bei einem einfachen Militärdienstentzieher bedarf es dazu besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände. Ohne solche Umstände ist aktuell schon eine Verfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich.

[3.] Die vom EuGH formulierte "starke Vermutung" einer politischen Verfolgung bei tatsächlich anzunehmender Militärdienstverweigerung muss derzeit als widerlegt angesehen werden [...]."

(Amtliche Leitsätze, anschließend an OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A - asyl.net: M29545, entgegen OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.01.2021 - 3 B 109.18 - asyl.net: M29482)

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, EuGH, EZ gg. Deutschland, EZ, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst,
Normen: RL 2011/95 Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95 Art. 10, RL 2011/95 Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

2. Ausgehend hiervon hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats auf Grundlage der mündlichen Verhandlung ein "einfacher Militärdienstentzieher" - d.h. jemand, der nicht bereits in das militärische System mit militärischen Aufgaben eingegliedert wurde, bei dem also keine Desertion im engeren Sinne und kein Überlaufen zu feindlichen Kräften angenommen werden kann - ohne individuell gefahrerhöhende Umstände. Allein dadurch, dass er sich durch Ausreise dem syrischen Militärdienst entzogen hat, drohte ihm im Falle einer - wegen des subsidiären Schutzes bloß hypothetischen, jedenfalls nicht gegen seinen Willen durchsetzbaren - Rückkehr nach Syrien gegenwärtig kein "real risk" der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

a. Entgegen seiner Auffassung folgt aus dem EuGH-Urteil "EZ" vom 19.11.2020 in der Rechtssache C-238/19 nicht, dass unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter "automatisch" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (ausführlich: Senatsbeschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, Juris; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 - 1 B 2.21 -, Juris Rn. 10). Allerdings sind nach diesem Urteil Art. 9 Abs. 2 lit. e der Anerkennungs-Richtlinie 2011/95/EU und damit § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG dahingehend auszulegen, dass eine Wehrdienstverweigerung auch dann vorliegt, wenn der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen (Urteils-Rn. 26 bis 32). Eine explizite Ablehnung der Wehrpflicht gegenüber den syrischen Behörden ist nicht erforderlich (vgl. Senatsbeschluss vom 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, Juris Rn. 15, mit dem insoweit die frühere Rspr. aus dem Urteil vom 27.03.2019 - A 4 S 335/19 -, Juris Rn. 35 aufgegeben wurde). Des Weiteren setzt nach dem EuGH-Urteil "EZ" das Regelbeispiel des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht voraus, dass der Wehrpflichtige, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, seinen künftigen militärischen Einsatzbereich kennt. Vielmehr ist von der Norm auch die Verweigerung eines Militärdienstes erfasst, der im Kontext eines allgemeinen Bürgerkrieges zu leisten ist, welcher durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist und unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfasste (Urteils-Rn. 33 bis 38). Schließlich hat der EuGH im Urteil "EZ" entschieden, dass die Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 3b AsylG sowie Art. 2 lit. d und Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU) und der Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG und Art. 9 Abs. 2 lit. e der Richtlinie 2011/95/EU nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil die Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpft. Allerdings spreche "eine starke Vermutung" dafür, dass die Verweigerung einer solchen Art des Militärdienstes mit einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht. Gleichwohl bedürfe es weiterhin einer individuellen Prüfung der Plausibilität dieser Verknüpfung in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände (Urteils-Rn. 45 bis 61).

Entgegen der Auffassung des Klägers führt also selbst eine durch diese "starke Vermutung" begründete Beweiserleichterung nicht zu einer von der tatsächlichen Verfolgungslage und den hierzu heranzuziehenden Erkenntnismitteln unabhängigen, unwiderleglichen Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund (§ 3a Abs. 3 AsylG sowie Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU), auf deren Notwendigkeit auch der EuGH gerade nicht verzichtet (vgl. Urteils-Rn. 44, 50; so auch BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 - 1 B 2.21 -, Juris Rn. 10). Ausdrücklich führt er aus, es sei "Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen" (Urteils-Rn. 61). Der Gerichtshof stellt die "starke Vermutung" einer Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund mithin unter den Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung der auch solchermaßen stark vermuteten "Plausibilität dieser Verknüpfung". Dies bedeutet eben keine unwiderlegliche Vermutung oder starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 - 1 B 2.21 -, Juris Rn. 10).

b. Hieran anknüpfend ist der Senat, wie bereits im Leitsatzurteil vom 27.03.2019 (- A 4 S 335/19 -, Juris) ausgeführt, weiterhin der Überzeugung, dass jemandem, der sich in Syrien dem Militärdienst entzogen hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit allein deswegen grundsätzlich keine Verfolgung droht. Internationaler Flüchtlingsschutz kann Militärdienstentziehern aus Syrien regelmäßig weiterhin auch nicht pauschal im Hinblick auf die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland, auf die Religion bzw. Ethnie oder die regionale Herkunft etwa aus einer (zeitweiligen) Rebellenhochburg gewährt werden. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln, insbesondere dem Lagebericht Syrien vom 04.12.2020 des Auswärtigen Amtes, ergibt sich insoweit seit 2019 keine rechtserhebliche Änderung der Sachlage.

c. Einer Person aus der Gruppe der einfachen Militärdienstentzieher aus Syrien kann die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG vielmehr weiterhin nur dann zuerkannt werden, wenn in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen, eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar ist. Dazu bedarf es bei einer solchen Person besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände. Eine solche Einzelfallprüfung hinsichtlich besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände ist vor allem deshalb weiterhin angezeigt, weil in Syrien derzeit jedenfalls schon keine flächendeckende oder systematische Verfolgung einfacher Militärdienstentzieher feststellbar ist. Der Senat schließt sich den fundierten Einschätzungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen an (Urteil vom 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A -, Juris, m.w.N.). Obwohl nach den Zahlen des UNHCR bis zum 31.03.2021 bereits über 275.000 Flüchtlinge selbstorganisiert nach Syrien zurückgekehrt sind (https://data2.unhcr.org/en/situations/syria_durable_solutions), sind dem Senat keine Erkenntnismittel bekannt, die überhaupt von solchen Verfolgungen oder davon berichteten, dass Militärdienstentzieher heute vom syrischen Regime als politisch Oppositionelle angesehen und deshalb verfolgt und bestraft würden. Auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.12.2020 (S. 14) ergibt sich hierzu nur, dass rückkehrende Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen werden und Haftstrafen für Desertion im engeren Sinne - wie sie der Kläger gerade nicht begangen hat - drohen. Auch für einen systematischen Einsatz von Wehrdienstentziehern im Sinne einer Bestrafung mit Politmalus durch "Frontbewährung", die den Tatbestand des § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 3 AsylG erfüllen kann (ebenso Nds. OVG, Urteil vom 16.01.2020 - 2 LB 731/19 -, Juris Rn. 43), gibt es keine ausreichenden Hinweise (vgl. nur Danish Immigration Service [DIS], 01.05.2020, S. 13 ff.).

Systematische Strafverfolgungen oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt mit menschenrechtswidrigen Verbrechen, wofür in Syrien weiterhin hinreichende Indizien sprechen (vgl. nur: medical.syrianarchive.org/map), finden dort heute bei Rückkehr nach einfachem Militärdienstentzug nicht statt. Auf dieser Tatsachengrundlage greift demnach die vom EuGH formulierte "starke Vermutung", dass die Verweigerung des Militärdienstes unter bestimmten Bedingungen mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht, aus Sicht des syrischen Staates nicht Platz, weil bereits eine Verfolgungshandlung nicht beachtlich wahrscheinlich ist (überzeugend: OVG NRW, Urteil vom 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A -, Juris Rn. 117). Der Gerichtshof hatte im Übrigen einen Sachverhalt aus 2017 vorgelegt bekommen und im Verfahren der Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ohne eigene Tatsachenfeststellungen selbstredend keine Aussagen zur aktuellen Rückkehrsituation in Syrien getroffen. Dies schließt es freilich nicht aus, dass auch Militärdienstentzieher in Syrien verfolgt bzw. vom Regime als politische Oppositionelle, die nach Berichten weiterhin unnachsichtiger Verfolgung unterliegen (AA, Lagebericht vom 04.12.2020, S. 12 f.), angesehen werden, sofern in ihrer Person besondere gefahrerhöhende Umstände wie insbesondere systemfeindliche politische Aktivitäten oder etwa im Einzelfall drohende Sippenhaft vorliegen.

d. Der Vortrag des Klägers, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg habe in einem vergleichbaren Sachverhalt mit Urteil vom 29.01.2021 (- OVG 3 B 109.18 -, Juris) entgegengesetzt entschieden und sei der Auffassung, syrischen Männern, die den Wehrdienst verweigert haben, sei unterschiedslos die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, trifft zu. Dieses Urteil stützt sich bezüglich der Frage der Verfolgung oder Bestrafung wegen einfachen Militärdienstentzugs auch auf Erkenntnismittel aus den Jahren bis 2017 bzw. 2019 (vgl. Juris Rn. 50 f., 58, 71). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinem Urteil vom 22.03.2021 überzeugend dargelegt, dass die herangezogenen neueren Quellen diese Bewertung jedenfalls gegenwärtig nicht (mehr) tragen (Juris Rn. 99 ff.). Auch der Senat ist im Einklang hiermit der Auffassung, dass die aktuelle syrische Situation anders als vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu bewerten ist. Gäbe es heute in Syrien Verfolgungshandlungen von einfachen Militärdienstentziehern, müsste es - angesichts der nicht unerheblichen Zahl von Rückkehrern - hierüber, wie in der Vergangenheit, aktuelle Berichte geben, was nicht der Fall ist. Jedenfalls flächendeckende bzw. systematische Verfolgungshandlungen oder Bestrafungen von Militärdienstentziehern wurden seit längerer Zeit nicht mehr dokumentiert und sind aktuell wenig wahrscheinlich schon angesichts des dringenden Bedarfs des Regimes an Kämpfern und vor allem an Geld. [...]

Nach alledem kann heute jedenfalls kein "real risk" einer für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzenden Verfolgung oder Bestrafung wegen einfachen Wehrdienstentzugs mehr angenommen werden. Erst recht kann nicht mehr angenommen werden, der syrische Staat sähe alle einfachen Militärdienstentzieher als politische Oppositionelle an, d.h. es fehlt zudem an der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen Verknüpfung von Verfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes mit einem der abschließenden fünf anerkannten Verfolgungsgründe des Refoulement-Verbots gemäß Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. § 3b AsylG, d.h. gerade wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die vom EuGH postulierte "starke Vermutung" muss aktuell insoweit als widerlegt angesehen werden (ebenso auch Nds. OVG, Urteil vom 22.04.2021 - 2 LB 408/20 -, Juris). [...]

g. Entgegen der Auffassung des Klägers kann sich dieser schließlich auch nicht auf die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungs-Richtlinie 2011/95/EU berufen. Denn seinem Vortrag im Verfahren vor dem Bundesamt und auch im gerichtlichen Verfahren lassen sich keine greifbaren Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass er selbst in Syrien vor seiner Ausreise eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung erlitten oder ihm eine solche unmittelbar gedroht hat. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Er hat bei seinen Anhörungen vor allem glaubhaft angegeben, sich durch Kriegshandlungen bedroht gefühlt zu haben. Vor seiner Ausreise drohte ihm auch nach eigener Einschätzung vor allem die Einziehung zum Militärdienst, was für sich genommen im asylrechtlichen Sinne keine Verfolgungshandlung darstellt. Eine Verfolgung stand auch nicht unmittelbar bevor, und zwar auch dann nicht, wenn damals eine Wehrdienstentziehung durch Flucht tatsächlich bestraft wurde. Denn eine Bestrafung als Verfolgungshandlung konnte erst mit einer Militärdienstverweigerungshandlung eintreten. Diese Verweigerung hat der noch nicht einberufene Kläger aber frühestens dadurch begangen, dass er sich durch seine Ausreise ins Ausland dem Zugriff Syriens entzog. Im Moment der Verweigerung stand demnach gar keine Verfolgung mehr bevor, erst recht nicht unmittelbar (treffend: OVG NRW, Urteil vom 22.03.2021 - 14 A 3439/18.A -, Juris Rn. 39; noch enger Hamb. OVG, Urteil vom 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A -, Juris Rn. 72). [...]