Hintergrund und Vorlagefragen des OVG Nordrhein-Westfalen
Der Entscheidung des EuGH lagen zwei Vorabentscheidungsersuchen zugrunde, die vom Gerichtshof gemeinsam beantwortet wurden (EuGH: Urteil vom 19.12.2024 – C-185/24, C-189/24 [Tudmur], RL und QS gg. Deutschland – asyl.net: M32942, Link s.u.). Anlass für die entstandenen Rechtsfragen war ein Rundschreiben vom 5.12.2022 gewesen, mit dem Italien die Mitgliedstaaten der Dublin-III-Verordnung über die vorübergehende Aussetzung der Wiederaufnahme von Asylsuchenden informiert hatte. Grund für die Aussetzung seien demnach kurzfristig aufgetretene technische Probleme im Zusammenhang mit fehlenden Aufnahmeeinrichtungen gewesen. Die (Wieder)Aufnahme von Asylsuchenden durch Italien ist allerdings bis heute ausgesetzt.
Das Oberwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hatte wegen dieser Mitteilung Italiens im Juni 2023 geurteilt, dass Asylverfahren von Personen, für die nach der Dublin-III-Verordnung (Verordnung EU Nr. 604/2013) Italien zuständig wäre, in Deutschland durchzuführen seien, weil die italienischen Behörden Rückkehrenden den Zugang zum Verfahren und die Aufnahme verweigerten. Die entsprechenden Entscheidungen des OVG hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Oktober 2023 aufgehoben (BVerwG, Beschluss vom 24.10.2023 – 1 B 22.23 – asyl.net: M31979). Zur Begründung hatte das BVerwG ausgeführt, dass allein die fehlende Aufnahmebereitschaft nicht für die Schlussfolgerung ausreiche, es lägen systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin-III-Verordnung vor. Die Erklärung Italiens könne lediglich ein Indiz begründen; es bedürfe jedoch einer weiteren Darlegung, welche Lebensumstände Asylsuchende im Falle einer – unterstellten – Überstellung nach Italien erwarteten.
Die Frage, ob das Asylsystem eines europäischen Staates „systemische Mängel“ oder “systemische Schwachstellen“ aufweist, kann in Dublin-Verfahren entscheidend sein, weil in einem solchen Fall Überstellungen in diesen Staat generell auszusetzen sind und die Prüfung des Asylbegehrens regelmäßig in dem Staat erfolgen muss, wo sich die schutzsuchende Person aufhält (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung). „Systemische Schwachstellen“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Asylverfahren und/oder die Lebensumstände von Asylsuchenden allgemein so schwerwiegende Mängel aufweisen, dass damit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Art. 4 der Grundrechte-Charta der EU einhergeht. In der vorliegenden Konstellation würde die Feststellung „systemischer Schwachstellen“ also bedeuten, dass nicht mehr geprüft werden müsste, ob die Überstellung nach Italien im Einzelfall zulässig ist. Vielmehr wären Überstellungen nach Italien generell auszusetzen und die Verantwortung für die Durchführung des Asylverfahrens ginge auf Deutschland über, falls nicht die Zuständigkeit eines weiteren „Dublin-Staates“ festgestellt werden könnte.
Das OVG Nordrhein Westfalen hat mit Beschluss vom 14.2.2024 (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.2.2024 – 11 A 1255/22.A – asyl.net: M32334) dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob sich systemische Schwachstellen im Aufnahmesystem eines Mitgliedstaats der Dublin-III-Verordnung allein deshalb annehmen lassen, weil die Aufnahme von Asylsuchenden einseitig ausgesetzt worden sei. Das OVG Nordrhein Westfalen hielt dabei an seiner Ansicht fest, dass ein solcher Aufnahmestopp systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin-III-Verordnung begründet.
Die Entscheidung des EuGH
Diese Frage hat der EuGH nunmehr beantwortet und führt in seiner Entscheidung aus, dass es für die Annahme von „systemischen Schwachstellen“ nicht ausreiche, wenn ein Mitgliedstaat die Aufnahme und Wiederaufnahme der Antragsteller*innen einseitig und unter Missachtung seiner Verpflichtungen ausgesetzt habe. Ein Mitgliedstaat könne sich nicht durch eine bloße einseitige Ankündigung seinen Pflichten nach der Dublin-III-Verordnung entziehen. Eine solche Möglichkeit würde dazu führen, diese Kriterien zu missachten, und damit das ordnungsgemäße Funktionieren des durch diese Verordnung geschaffenen Systems gefährden. Ginge man davon aus, dass sich aus einer solchen einseitigen Ankündigung ableiten ließe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller*innen „systemische Schwachstellen“ aufwiesen, die eine derart ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen, könnte eine „Sekundärmigration“ (also die Weiterwanderung innerhalb der EU) begünstigt werden.
Stattdessen sei „auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben“ zu prüfen, ob „systemische Schwachstellen“ vorliegen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechte-Charta der EU mit sich brächten.