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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.12.2024 - C-185/24, C-189/24 - RL und QS gg. Deutschland - asyl.net: M32942
https://www.asyl.net/rsdb/m32942
Leitsatz:

Keine systemischen Schwachstellen bei einseitiger Aussetzung der Wiederaufnahme von Asylsuchenden: 

1. Für die Annahme von systemischen Schwachstellen ist es nicht ausreichend, wenn ein Mitgliedstaat die Aufnahme und Wiederaufnahme von Asylsuchenden einseitig und unter Missachtung seiner Verpflichtungen ausgesetzt hat. Ein Mitgliedstaat kann sich nicht durch eine bloße einseitige Ankündigung seinen Pflichten aus der Dublin III-Verordnung entziehen, denn dies würde das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems gefährden und Sekundärmigration begünstigen. 

2. Systemische Schwachstellen sind auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu prüfen. 

(Leitsätze der Redaktion; Vorabentscheidungsfrage des OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.02.2024 - 11 A 1255/22.A - asyl.net: M32334)

Schlagwörter: Dublinverfahren, systemische Mängel, Italien, Vorabentscheidungsverfahren,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7 RL und QS sind syrische Staatsangehörige. Sie stellten am 30. Dezember 2021 bzw. am 15. Februar 2022 einen Asylantrag in Deutschland.

8 Auf der Grundlage der in der Eurodac-Datenbank enthaltenen Informationen wurde jedoch die Italienische Republik als der für die Prüfung der beiden Asylanträge zuständige Mitgliedstaat ermittelt.

9 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) ersuchte die Italienische Republik daher darum, RL und QS aufzunehmen. Eine Reaktion auf dieses Gesuch blieb aus.

10 Daraufhin lehnte das Bundesamt mit Bescheiden vom 31. März und 19. April 2022 die Asylanträge von RL und QS gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Asylgesetzes in seiner durch das Gesetz vom 19. Dezember 2023 geänderten Fassung als unzulässig ab und begründete dies damit, dass die Italienische Republik für die Prüfung ihrer Asylanträge zuständig sei. Es ordnete auch die Abschiebung der Antragsteller nach Italien an. [...]

13 Während der laufenden Berufungsverfahren richtete die italienische Dublin-Unit am 5. Dezember 2022 ein Rundschreiben an alle Dublin-Units. In diesem Schreiben hieß es:

"Hiermit informieren wir darüber, dass aufgrund kurzfristig aufgetretener technischer Gründe im Zusammenhang damit, dass keine Aufnahmeeinrichtungen zur Verfügung stehen, die Mitgliedstaaten gebeten werden, Überstellungen nach Italien ab morgen vorübergehend auszusetzen, ausgenommen Fälle von Familienzusammenführungen unbegleiteter Minderjähriger.

Weitere und genauere Informationen zur Dauer der Aussetzung folgen."

14 Am 7. Dezember 2022 übermittelte die italienische Dublin-Unit ein zweites Rundschreiben. Dieses lautete:

"Mein Schreiben erfolgt im Nachgang zur Mitteilung vom 5. Dezember betreffend die Aussetzung von Überstellungen, ausgenommen Fälle von Familienzusammenführungen Minderjähriger, aufgrund dessen, dass keine Aufnahmeeinrichtungen zur Verfügung stehen.

In diesem Zusammenhang informieren wir Sie angesichts der großen Zahl von Ankünften sowohl an den See- als auch an den Landgrenzen darüber, dass der Zeitplan für die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen überarbeitet werden muss, wobei auch der Mangel an verfügbaren Aufnahmeplätzen zu berücksichtigen ist."

15 Mit Beschlüssen vom 21. Juni 2023 wies das vorlegende Gericht die oben in Rn. 12 genannten Berufungen zurück. Die Bundesrepublik Deutschland sei gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung der Asylanträge von RL und QS zuständig geworden, da deren Überstellung nach Italien nicht vorgenommen werden könne.

16 Diese Beschlüsse wurden vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) aufgehoben und die Rechtsstreitigkeiten zur anderweitigen Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das vorlegende Gericht zurückverwiesen. [...]

18 Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, die Auslegung des Begriffs "systemische Schwachstellen" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung zu klären. Es fragt sich, ob systemische Schwachstellen gegeben sind, wenn sich der zuständige Mitgliedstaat mit Ausnahme weniger Einzelfälle für einen unbestimmten Zeitraum weigert, Personen, die internationalen Schutz beantragen, aufzunehmen oder wieder aufzunehmen.

19 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist diese Frage zu bejahen. Indem sich die Italienische Republik bewusst weigere, Asylbewerber aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, verweigere sie diesen von vornherein den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme.

20 Sollte diese Frage jedoch zu verneinen sein, möchte das vorlegende Gericht weiter wissen, wie es beurteilen kann, ob systemische Schwachstellen in einem Fall vorliegen, in dem der zuständige Mitgliedstaat die Aufnahme oder Wiederaufnahme von Asylbewerbern verweigert. In einem solchen Fall könnten nämlich keine objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Angaben über das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber erlangt werden, die für diese Beurteilung erforderlich seien.

21 Demnach hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:

1. Ist Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung dahin gehend auszulegen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta mit sich bringen, wenn dieser Mitgliedstaat aufgrund staatlich angeordneter Aussetzung der Annahme von Überstellungen die (Wieder-)Aufnahme von Asylantragstellern für einen unbestimmten Zeitraum grundsätzlich verweigert?

2. Falls Frage 1 zu verneinen ist: Ist Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung dahin gehend auszulegen, dass die unionsrechtlichen Vorgaben an die Sachverhaltsaufklärung, die die Feststellung objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zum Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen zu überstellender Antragsteller erfordern, eine Einschränkung erfahren, wenn das erkennende Gericht diese Angaben nicht erhalten kann, sondern nur einen hypothetischen Sachverhalt ermitteln könnte, weil der in den Blick zu nehmende Mitgliedstaat grundsätzlich die (Wieder-)Aufnahme von Asylantragstellern aufgrund staatlich angeordneter Aussetzung der Annahme von Überstellungen für einen unbestimmten Zeitraum grundsätzlich verweigert? [...]

29 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass festgestellt werden kann, dass in dem nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, allein deshalb systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen, weil dieser Mitgliedstaat die Aufnahme und Wiederaufnahme der Antragsteller einseitig ausgesetzt hat. Sollte dies zu verneinen sein, möchte das vorlegende Gericht wissen, anhand welcher Anhaltspunkte es das Vorliegen derartiger Schwachstellen in einem solchen Fall feststellen kann.

30 Das Unionsrecht beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Europäische Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten, die in der Charta, insbesondere in deren Art. 1 und 4, anerkannt sind, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten – die Würde des Menschen, die insbesondere das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung umfasst – verankert ist [...].

33 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist [...].

34 Gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, nicht an den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass ihr aufgrund von systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta droht [...].

35 Aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung ergibt sich jedoch eindeutig, dass nur "systemische Schwachstellen", die "eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen", die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat unmöglich machen. Diese Bestimmung stellt somit zwei kumulative Voraussetzungen auf [...].

36 Die erste dieser Voraussetzungen, nämlich das Vorliegen "systemischer Schwachstellen", ist erfüllt, wenn die in Rede stehenden Schwachstellen immer noch vorhanden sind und allgemein das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen betreffen, die für Personen gelten, die internationalen Schutz beantragen, oder zumindest für bestimmte insgesamt betrachtete Personengruppen, die internationalen Schutz beantragen [...].

37 Diese Schwachstellen müssen im Übrigen eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. [...]

38 Die zweite Voraussetzung, die das Vorliegen einer Gefahr einer solchen Behandlung betrifft, ist somit erfüllt, wenn die systemischen Schwachstellen die Gefahr mit sich bringen, dass der Betroffene einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wird [...].

40Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass, wie die Europäische Kommission und alle Regierungen, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, ausgeführt haben, nicht allein deshalb vermutet werden kann, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen systemische Schwachstellen aufweisen, die den Antragsteller einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung aussetzen, weil der zuständige Mitgliedstaat einseitig und unter Missachtung seiner Verpflichtungen im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems angekündigt hat, dass alle Überstellungen von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in sein Hoheitsgebiet und damit die Verfahren zur Aufnahme und Wiederaufnahme dieser Antragsteller ausgesetzt werden. Vielmehr kann das Vorliegen solcher systemischer Schwachstellen und einer solchen Gefahr nur nach einer konkreten Prüfung festgestellt werden, die auf objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Angaben beruht.

41 Diese Auslegung wird durch die Ziele der Dublin-III-Verordnung bestätigt, mit der insbesondere eine klare und praktikable Methode der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeführt werden soll und Sekundärmigrationen von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten verhindert werden sollen [...].

42 Der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-III-Verordnung als zuständig bestimmt wird, kann sich jedoch nicht durch eine bloße einseitige Ankündigung seinen Pflichten nach dieser Verordnung entziehen, da eine solche Möglichkeit dazu führen würde, diese Kriterien zu missachten, und damit das ordnungsgemäße Funktionieren des durch diese Verordnung geschaffenen Systems gefährden würde. Ginge man davon aus, dass sich aus einer solchen einseitigen Ankündigung ableiten ließe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller systemische Schwachstellen aufweisen, die eine derart ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen, dass jede Überstellung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in den zuständigen Mitgliedstaat verhindert wird und die Zuständigkeit von diesem Mitgliedstaat auf den Mitgliedstaat der Sekundärmigration übergeht, könnte dies dadurch zu solchen Migrationen ermutigen, dass für die Antragsteller Anreize geschaffen würden, ihre Migrationsroute in einen anderen Mitgliedstaat fortzusetzen, dessen Bedingungen ihnen günstiger erscheinen.

43 Daher kann der Umstand, dass der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-III-Verordnung als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Aufnahme und Wiederaufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, einseitig ausgesetzt hat, für sich genommen nicht die Feststellung nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung rechtfertigen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen.

44 Folglich ist es auch in einem solchen Fall Sache des mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befassten Gerichts, das Vorliegen solcher systemischer Schwachstellen und der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta unter den Voraussetzungen zu prüfen, die durch die oben in den Rn. 35 bis 39 angeführte Rechtsprechung präzisiert wurden. [...]

47 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass

- nicht festgestellt werden kann, dass in dem nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, allein deshalb systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen, weil dieser Mitgliedstaat die Aufnahme und Wiederaufnahme der Antragsteller einseitig ausgesetzt hat;

- eine solche Feststellung nur nach einer Prüfung aller relevanten Daten auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben getroffen werden kann. [...]