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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 24.10.2023 - 1 B 22.23 - asyl.net: M31979
https://www.asyl.net/rsdb/m31979
Leitsatz:

Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen zu systemischen Mängeln in Italien wegen Verfahrensfehler aufgehoben und zurückverwiesen:

Die Annahme des OVG Nordrhein-Westfalen, in Italien drohe Dublin-Rückkehrenden die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei Überstellung, entbehrt jeder tatsächlichen Begründung und verstößt daher mangels objektiver Grundlage für die Überzeugungsbildung gegen den Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO. Denn das Oberverwaltungsgericht legt zwar ausführlich die fehlende Aufnahmebereitschaft Italiens dar, nicht aber eine daraus folgende Gefahr extremer materieller Not für Einzelne.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.06.2023 - 11 A 1168/22.A - openjur.de; vgl. auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.03.2023 - 11 A 1086/21.A (Asylmagazin 6/2023, S. 215 f.) - asyl.net: M31498)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, systemische Mängel, richterliche Überzeugungsgewissheit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Verfahrensfehler, Revision,
Normen: VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

2. Die Beschwerde rügt jedoch zu Recht einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und damit einen Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, auf dem die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruhen kann. [...]

a. Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung einer Tatsacheninstanz ist der Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit unterstellt, als es um Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geht. Rügefähig ist damit nicht das Ergebnis der Beweiswürdigung, sondern nur ein Verfahrensvorgang auf dem Weg dorthin. [...] Das Gericht darf nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergebnisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. [...] Das Tatsachengericht darf seine Überzeugung nicht gänzlich ohne Grundlage bilden; es darf Umstände, auf deren Vorliegen es seiner Rechtsauffassung nach für die Entscheidung ankommt, nicht ungeprüft behaupten [...]. So liegt es indes hier. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, den Klägern drohe die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, entbehrt jeder Begründung in tatsächlicher Hinsicht, die auch unionsrechtlich geboten ist, und erweist sich daher mangels objektiver Grundlage für die Überzeugungsbildung als verfahrensfehlerhaft.

b. Vor der Bejahung einer Gefahr im Sinne des Art. 4 GRC ist das Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden [...].

Eine derartige Prüfung von Schwachstellen, deren Vorliegen auch nach den Obersätzen des Oberverwaltungsgerichts erforderlich ist, lässt der Beschluss gänzlich vermissen. Das Oberverwaltungsgericht legt zwar ausführlich die fehlende Aufnahmebereitschaft Italiens dar, nicht aber eine daraus folgende Gefahr der extremen materiellen Not für den Einzelnen. Vielmehr bleiben die Lebensumstände, die die Kläger dort im Falle einer Überstellung erwarten würden, darunter auch die Zustände in den italienischen Aufnahmeeinrichtungen, im Ergebnis offen. Soweit das Oberverwaltungsgericht aus der Erklärung Italiens zur Aufnahmeverweigerung wegen mangelnder Aufnahmekapazitäten auf systemische Schwachstellen schließt, kann diese Erklärung lediglich ein Indiz begründen. Sie reicht aber – insbesondere wegen der von dem Oberverwaltungsgericht selbst aufgeworfenen Frage, ob die Begründung nur vorgeschoben sei (BA S. 12) – nicht für die Schlussfolgerung auf systemische Mängel im oben bezeichneten Sinne. Hierfür bedarf es vielmehr der weiteren Darlegung, wie sich die Verhältnisse in Italien im Falle einer (unterstellten) Rücküberstellung, unter Berücksichtigung ggf. vorhandener Vulnerabilitäten, darstellen, an der es fehlt. [...]