BVerwG: Keine unmenschliche oder erniedrigende Aufnahmesituation für nichtvulnerable Schutzberechtigte in Italien

Am gestrigen Donnerstag, den 21.11.2024, verhandelte das BVerwG erstmals eine sogenante "Tatsachenrevision" gem. § 78 Abs. 8 AsylG. In seiner Entscheidung befand es die Lage in Italien für dort als schutzberechtigt anerkannte, nicht vulnerable, arbeitsfähige Personen allgemein für im Lichte der Grundrechtecharta zumutbar.

Am 21.11.2024 fand am Bundesverwaltungsgericht das erste Mal eine Verhandlung einer so genannten „Tatsachenrevision“ gemäß § 78 Abs. 8 AsylG statt.

Gegenstand waren Revisionsverfahren zweier in Italien als Flüchtlinge anerkannter alleinstehender Frauen aus Somalia und Syrien, die in Deutschland erneut einen Asylantrag gestellt hatten. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hatte von der seit dem 01.01.2023 bestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Revision zum BVerwG zwecks einheitlicher Beurteilung der Lage im Zielstaat der Abschiebung (hier Italien) zuzulassen. Dabei hatte das OVG unter anderem die Feststellung getroffen, dass die Klägerinnen nicht in besonderem Umfang vulnerabel und arbeitsfähig seien, woran das BVerwG gebunden war. Die Lagebewertung in dem Revisionsurteil beschränkt sich daher auf die Situation von in Italien als Schutzberechtigt anerkannter, nichtvulnerabler, arbeitsfähiger Personen. Das BVerwG urteilte, dass diesem Personenkreis eine Rückkehr nach Italien zuzumuten ist. Somit schloss es sich den Vorinstanzen an, welche die Ablehnung der Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Androhung der Abschiebung nach Italien für rechtmäßig befunden hatten.
Der Maßstab hierfür ist, ob bei Rückkehr in den Mitgliedstaat, der die Flüchtlingseigenschaft verliehen hatte, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht. Im Jahr 2019 hatte der EuGH geklärt, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung bei einem drohenden Verstoß gegen Art. 4 der Grundrechtecharta nicht erlaubt ist (Urteil vom 13.11.2019 – C-540/17; C-541/17 Hamed und Omar gg. Deutschland – asyl.net: M27836). Hierfür betrachtet die Rechtsprechung vor allem die Bereiche Unterkunft, Ernährung und Hygiene („Bett, Brot, Seife“). In Bezug auf den Zugang zu Unterkünften verwies das BVerwG in der mündlichen Verhandlung sowie der Pressemitteilung zu seiner Entscheidung insbesondere auf (temporär) bereitstehende Angebote von Kirchen und NGOs. Der Lebensunterhalt könne durch Erwerbstätigkeiten gedeckt werden, dies gelte auch für Frauen. Ferner stünde im Rahmen des italienischen Gesundheitssystems auch medizinische Versorgung zur Verfügung.


Mit der Entscheidung ist die Tatsachenlage in Bezug auf Italien für den betroffenen Personenkreis bis auf Weiteres verbindlich beurteilt. Nichtsdestotrotz können Änderungen der Verhältnisse jederzeit zu einer Neubewertung führen und Behörden sowie Gerichte bleiben entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG verpflichtet, die im Einzelfall erheblichen Tatsachen tagesaktuell zu erfassen und zu bewerten (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – asyl.net: M23800).

Prozessrechtliches Neuland

Das Verfahren gab auch erste Einblicke, wie das BVerwG die neu geschaffene Tatsachenrevision handhaben möchte. So wurde in der gut einstündigen mündlichen Verhandlung kein Beweis erhoben, sondern allein auf bestehende Erkenntnismittel zurückgegriffen. Dabei waren einige Fragen, etwa nach der ausreichenden Anzahl an durch die Kirche und NGOs zur Verfügung gestellten Unterkünften oder nach der Wiederaufnahme der rücküberstellten Personen durch Italien und der erneuten Registrierung und Dokumentenausstellung, in der Verhandlung diskutiert worden. Gegebenenfalls werden die Urteilsgründe auch Aufschluss über einige zu Grunde liegende Rechtsfragen, wie der Zumutbarkeit einer Tätigkeit in illegalen Beschäftigungsverhältnissen (oft als „Schattenwirtschaft“ bezeichnet), liefern. Eine Vorlage an den EuGH hielt das BVerwG in dem zu entscheidenden Fall ebenfalls nicht für notwendig.


Der Gesetzgeber hatte die neue Form der Revision entworfen, um durch eine einheitliche Lagebeurteilung Rechtsklarheit für eine Vielzahl von Verfahren zu schaffen. Da es sich um ein Revisionsverfahren handelt, gelten alle Tatsachen, welche die beteiligten Personen individuell und nicht die Lage im Allgemeinen betreffen, so wie sie von der Vorinstanz festgestellt wurden. Auch weitere Rechtsfragen, die nicht die allgemeine Lagebeurteilung im Zielstaat der Abschiebung betreffen, werden nicht überprüft. Hierfür ist zusätzlich Revision nach den bereits vorher gültigen Vorschriften anzustrengen. Voraussetzung für die Zulassung einer „Tatsachenrevision“ ist eine abweichende Lagebewertung durch das zulassende Gericht gegenüber anderen Oberverwaltungsgerichten bzw. dem Bundesverwaltungsgericht - in dem nun entschiedenen Fall durch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz gegenüber der Lagebewertung hinsichtlich Italiens durch das OVG Nordrhein-Westfalen. Derzeit sind weitere Tatsachenrevisionen bezüglich der Lage in Italien für dort als schutzberechtigt anerkannte, besonders vulnerable Personen (VGH München, Urteil v. 21.03.2024 – 24 B 23.30860) und der Lage in Griechenland für dort als schutzberechtigt Anerkannte (VGH Hessen, Urteile vom 06.08.2024 – 2 A 489/23 und 2 A 1131/24.A) anhängig.

 


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