Auch vulnerablen Personen droht in Italien keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung:
1. Eine alleinerziehende Mutter kann bei einer Rückkehr nach Italien damit rechnen, zusammen mit ihrem Kind in einer SAI-Einrichtung untergebracht zu werden. Es droht ihr weder als Dublin-Rückkehrende noch im Falle einer Anerkennung Obdachlosigkeit. Es liegen jedenfalls keine gesicherten Anhaltspunkte dafür vor, dass eine ausreichende Unterbringung und Versorgung in Italien nicht erfolgt (Rn. 55 - 58).
2. Ist dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen (Rn. 48).
3. Die Schreiben der italienischen Dublin-Unit zur Aussetzung der Rücknahme von Asylsuchenden im Rahmen des Dublin-Systems führen nicht zu der Annahme systemischer Schwachstellen in Italien oder zu einem Verantwortungsübergang auf einen anderen EU-Mitgliedstaat (Rn. 46).
4. Allein aus dem Bestehen einer verfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung eines Familienmitgliedes während eines noch laufenden Asylverfahrens kann ohne weitere tatsächliche Umstände regelhaft kein Duldungsanspruch für andere Familienmitglieder zum Zwecke der gemeinsamen Ausreise abgeleitet werden. Familiäre Bindungen stehen der Abschiebungsandrohung in diesem Fall nicht entgegen (Rn. 78).
(Leitsätze der Redaktion; die Revision gegen das Urteil wurde zugelassen wegen abweichender Beurteilung der Situation vulnerabler Personen durch das OVG Koblenz, Beschluss vom 23. 01. 2024 - 13 A 10945/22 - Asylmagazin 3/2024, S. 100 f. - asyl.net: M32163)
[...]
B. Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet. [...] Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts ist daher zu ändern und die Klage abzuweisen. [...]
I. Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig in Nr. 1 des angefochtenen Bescheides ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a AsylG. [...]
1. Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich aus Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO. [...]
a. Ein Entfall der Zuständigkeit Italiens nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO setzte voraus, dass aufgrund systemischer oder allgemeiner oder bestimmte Personengruppen betreffender Schwachstellen des Asylsystems oder unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen für den Fall einer Überstellung nach Italien davon auszugehen ist, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass es in Italien während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung der Klägerin kommt. [...]
b. Die beiden Schreiben der italienischen Dublin-Unit vom 5. und 7. Dezember 2022 führen nicht unabhängig von der Frage, ob in Italien Zugang zum Asylverfahren besteht und die Aufnahmebedingungen gegen Art. 4 GRCh verstoßen, dazu, dass systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bestünden bzw. die Zuständigkeit aus übrigen Gründen wie einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der fehlenden Aufnahmebereitschaft des zuständigen Staates auf die Beklagte übergeht [...].
c. Systemische Schwachstellen im Asylsystem Italiens im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufgrund eines fehlenden Zugangs zum Asylverfahren oder unzureichender Aufnahmebedingungen liegen nicht vor.
Für die diesbezügliche Bewertung ist es unerheblich, dass Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens gegenwärtig faktisch fast nicht erfolgen [...]. Vielmehr ist wie auch bei der Bewertung der Risiken einer Abschiebung ins Herkunftsland eine Prognose auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten vorzunehmen, gerade auch, wenn die Erkenntnislage nur begrenzt ist. Wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich ist, darf es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen [...].
Vorliegend liegen hinreichende Daten hinsichtlich des italienischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vor, um eine Prognoseentscheidung treffen zu können. [...]
(2) Auch die vom Senat ermittelten und zugrunde gelegten tatsächlichen Umstände in Italien lassen nicht den Schluss zu, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Das italienische Asylsystem ist zwar stark belastet, doch noch immer in der Lage, dem von den anderen Mitgliedstaaten in das italienische Asylsystem gesetzte Vertrauen zu entsprechen. [...]
Die Klägerin kann damit rechnen, bei der gemeinsam mit ihrem Kind erfolgenden Überstellung nach Italien in einer sogenannten "SAI-Einrichtung" und nicht in einer (allgemeinen) Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht zu werden [...].
(b) Der Klägerin droht in Italien auch im Falle einer Anerkennung als international Schutzberechtigte keine gegen Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung [...].
Es ist davon auszugehen, dass alleinerziehende Personen bzw. Familien mit minderjährigen Kindern nach Stattgabe ihres Asylantrags zunächst für in der Regel ein Jahr in ihrer während des Asylverfahrens bewohnten Aufnahmeeinrichtung verbleiben können. Dadurch sind für diesen Zeitraum mit Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK vereinbare humanitäre Verhältnisse gewährleistet. [...]
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof auf eine Vorlage eines italienischen Gerichts nunmehr mit Urteil vom 29. Juli 2024 - C-112/22 - entschieden hat, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, gelesen im Licht von Art. 34 GRCh, dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die den Zugang langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger zu einer Maßnahme der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes von der auch für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats geltenden Voraussetzung abhängig macht, mindestens zehn Jahre, davon die letzten beiden Jahre ununterbrochen, in diesem Mitgliedstaat gewohnt zu haben. [...]
3. Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO übergegangen. Zwar geht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten erfolgt. [...]
Die sechsmonatige Frist wurde jedoch durch die Erhebung der Klage unterbrochen und beginnt erst mit endgültiger Entscheidung über diese erneut zu laufen. Zwar hat die Klage nicht von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung, da der streitgegenständliche Bescheid die Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylG angeordnet hat, § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Jedoch hat das Verwaltungsgericht auf Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 2. September 2019 (10 B 68/19) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. [...]
III. Die Abschiebungsanordnung ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. [...]
Dem Erlass der Abschiebungsanordnung stehen auch keine inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse aufgrund familiärer Bindungen entgegen. [...]
So ist auch zu § 43 Abs. 3 AsylG anerkannt, dass alleine aus dem Bestehen einer verfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung eines Familienmitgliedes während eines noch laufenden Asylverfahrens aus Art. 6 Abs. 1 GG ohne weitere tatsächliche Umstände regelhaft kein Duldungsanspruch für andere Familienmitglieder zum Zwecke der gemeinsamen Ausreise abgeleitet werden kann [...].
Vorliegend befindet sich zwar das minderjährige Kind der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland. Die Tochter der Klägerin ist jedoch weder deutsche Staatsangehörige noch hat sie ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Sie hat einen Asylantrag gestellt, über den noch nicht entschieden wurde. Damit ist lediglich der Aufenthalt des Kindes gestattet, § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Es ist auch im Übrigen nicht ersichtlich, dass die Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden könnte. [...]
D. Die Revision wird nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG zugelassen. Entscheidungserheblich ist unter anderem inzident die Situation für vulnerable anerkannt Schutzberechtigte in Italien [...]. Der Senat weicht in der Beurteilung der aktuellen allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für alleinerziehende Personen bzw. Familien mit minderjährigen Kindern von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Koblenz [...] ab. [...]