Keine qualifizierte Ablehnung des Asylantrags bei Einritt der Volljährigkeit während des Verfahrens:
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung der Minderjährigkeit muss der Zeitpunkt der Asylantragstellung sein. Dies entspricht dem Kindeswohl und dem Minderjährigenschutz. Würde stattdessen auf den Zeitpunkt der Anhörung abgestellt, so könnte das BAMF beeinflussen, ob eine qualifizierte Ablehnung möglich ist. Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung sichert zudem, dass alle minderjährigen Antragstellenden, die zum selben Zeitpunkt einen Asylantrag gestellt haben, gleich behandelt werden, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Anhörung.
(Leitsätze der Redaktion, so auch: VG Berlin, Beschluss vom 27.11.2024 - 4 L 726/24 A - asyl.net: M33002 und VG Dresden, Beschluss vom 19.07.2024 - 2 L 522/24.A - asyl.net: M32641)
[...]
7 Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel an der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet auf der Grundlage von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Denn nach § 30 Abs. 2 AsylG findet § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG auf unbegleitete Minderjährige keine Anwendung. Die am ... 2005 geborene Antragstellerin war bei Stellung ihres Asylantrags am 27. November 2023 noch minderjährig und hielt sich in diesem Zeitpunkt ohne ihre Eltern oder eine sonst sorgeberechtigte Person im Bundesgebiet auf. Dass sie hingegen bei der Anhörung zu ihren Asylgründen am 13. Dezember 2023 sowie der Entscheidung über ihren Asylantrag bereits volljährig war, ist unbeachtlich.
8 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit im Sinne von § 30 Abs. 2 AsylG ist nach unionsrechtskonformer Auslegung die Stellung des Asylantrags im Sinne von § 13 AsylG (Asylgesuch). § 30 Abs. 2 AsylG dient der Umsetzung von Art. 25 Abs. 6 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie). Die durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (sogenanntes Rückführungsverbesserungsgesetz) neu eingeführte und am 27. Februar 2024 in Kraft getretene Vorschrift des § 30 Abs. 2 AsylG schließt damit eine bislang bestehende Lücke im nationalen Recht (BT-Drs. 20/9463, S. 57). Nach Art. 25 Abs. 6 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie kommt die Ablehnung des Asylantrags eines unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden als offensichtlich unbegründet nur dann in Betracht, wenn der Minderjährige entweder aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt, er einen Folgeantrag gestellt hat oder es schwerwiegende Gründe für die Annahme gibt, dass der Minderjährige eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt oder er aus ebensolchen Gründen ausgewiesen wurde. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. In den übrigen Fällen ist die Ablehnung des Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen als offensichtlich unbegründet ausgeschlossen. Für die Frage, wer als unbegleiteter Minderjähriger anzusehen ist, verweist Art. 2 Buchst. m) Asylverfahrensrichtlinie auf Art. 2 Buchst. l der Richtlinie 2011/95/EU [...] (Qualifikationsrichtlinie). Danach ist als unbegleiteter Minderjähriger anzusehen, wer ohne Begleitung eines für ihn verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden.
9 Der Europäische Gerichtshof hat im Rahmen des Familiennachzugs zu anerkannten minderjährigen Flüchtlingen zu der im Wesentlichen inhaltsgleichen Begriffsbestimmung in Art. 2 Buchst. f) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 (Familienzusammenführungsrichtlinie) ausgeführt, dass als "minderjährig" im Sinne der Vorschrift anzusehen ist, wer zum Zeitpunkt seiner Einreise und der Stellung seines Asylantrags unter 18 Jahre alt ist [...]. Hierbei kommt es nicht auf den Zeitpunkt der förmlichen Asylantragstellung beim Bundesamt im Sinne von § 14 AsylG an, sondern auf das Asylgesuch, wobei diese im Einzelfall auch zusammenfallen können [...].
10 [...] Hintergrund der Regelung aus Art. 25 Abs. 6 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie – und damit auch § 30 Abs. 2 AsylG – ist das in Art. 24 der Europäischen Grundrechtecharta verbürgte Kindeswohl, bei dessen Beurteilung insbesondere das Wohlbefinden und die soziale Entwicklung unter Berücksichtigung des Hintergrunds des Minderjährigen zu berücksichtigen sind (Erwägungsgrund 33 der Asylverfahrensrichtlinie). Dem Kindeswohl und dem Minderjährigenschutz entspricht es, auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Schutzsuchende diejenige Handlung vornimmt, die zu der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG führt. Dies ist der Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs. Denn nur so ist gewährleistet, dass die Frage, ob ein Asylantrag als einfach oder offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, nicht davon abhängt, wann das Bundesamt die Anhörung durchführt. Des Weiteren sichert ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt die Gleichbehandlung von Minderjährigen ab, die im selben Zeitpunkt ein Schutzersuchen geäußert haben, jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen Anhörungstermin erhalten.
11 Soweit dem entgegen teilweise auf den Zeitpunkt der Anhörung abgestellt und zur Begründung angeführt wird, dadurch würde dem Umstand ausreichend Rechnung getragen, dass ein zum Zeitpunkt der Anhörung Minderjähriger aufgrund seiner geistigen und sozialen Entwicklung und fehlender Reife gegebenenfalls noch nicht in der Lage sei, seine Fluchtgründe geordnet und frei von Widersprüchen darzulegen, vermag dem die Einzelrichterin nicht zu folgen [...]. Denn nur ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylgesuchs stellt hinreichend sicher, dass einem zu diesem Zeitpunkt Minderjährigen kein Verhalten und keine Angaben zum Nachteil gereichen, die auf seiner fehlenden Reife beruhen [...]. So wird die Kausalkette für eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht erst mit den Angaben in der Anhörung, sondern bereits mit Äußerung des Asylgesuchs in Gang gesetzt. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die an die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet anknüpfenden Folgen, wie etwa der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeit, der kurzen Ausreisefrist und der besonders weitreichenden Titelerteilungssperre.
12 Hingegen gebietet der Minderjährigenschutz nicht etwa – unter Bezugnahme auf den Wortlaut von Art. 2 Buchst. l der Qualifikationsrichtlinie – ein isoliertes Abstellen auf den Zeitpunkt der Einreise [...]. Eine solche Auslegung würde den Minderjährigenschutz über das gebotene Maß hinaus ausdehnen, da dann der Asylantrag eines als unbegleiteter Minderjähriger eingereisten Schutzsuchenden, der jedoch erst mehrere Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit ein Schutzersuchen äußert, ebenso wenig als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden dürfte. [...]