Erteilung eines Visums zum Kindernachzugs nach § 36a AufenthG für Syrer:
1. Auch nach Eintritt der Volljährigkeit der nachzugsbegehrenden Person ist ein Visum zur Familienzusammenführung bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen zu erteilen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Grundsätze des Kindernachzugs auch im Rahmen des § 36a AufenthG gelten. Demnach müssen die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug spätestens im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sind.
2. Eine fristwahrende Anzeige oder die bloße Registrierung eines Terminwunsches zur Antragstellung in der Botschaft stellt keinen Visumsantrag dar. Allerdings ist die Stellung des Visumsantrag auch formlos möglich, wenn daraus hinreichend deutlich hervorgeht, dass die Erteilung eines Visums beantragt wird.
3. Es kann dahinstehen, ob der humanitäre Grund der Betroffenheit eines minderjährigen Kindes auch dann gegeben ist, wenn das Kind bereits volljährig ist oder ob auch auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist.
4. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall liegt ein unbenannter humanitärer Grund von vergleichbarem Gewicht der in § 36a AufenthG genannten humanitären Gründe vor.
(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 8.12.2022 - 1 C 8.21- asyl.net: M31119 wegen der Grundsätze des Kindernachzugs bei Volljährigkeit und OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.01.2022 - 3 S 87/21 - asyl.net: M30381 wegen formlosen Visumsantragstellung, Vorinstanz:VG Berlin, Urteil vom 09.03.2023 - 38 K 919/21 V - asyl.net: M31961)
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Die Berufung ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht in der Weise stattgegeben, dass es die Beklagte verpflichtet hat, den Visumantrag des Klägers bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen. [...]
Der Kläger ist als minderjähriges Kind im Sinne des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen, obwohl er seit dem ... 2021 volljährig ist. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze auch für den Kindernachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG gelten. Es kommt daher maßgeblich darauf an, ob die betreffende Person zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig war. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, so dass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 1 C 8.21 - juris Rn. 9).
Die Beklagte und das Verwaltungsgericht haben zu Recht angenommen, dass der Kläger seinen Visumantrag nicht erst bei der persönlichen Vorsprache in der Botschaft Beirut am 25. Mai 2021 gestellt hat, sondern schon vor Erreichen der Volljährigkeit.
Allerdings hat der Senat mehrfach entschieden, dass die sog. fristwahrende Anzeige, die hier am 19. Dezember 2019 erfolgt ist, ebenso wenig einen Visumantrag darstellt wie die bloße Registrierung eines Terminwunschs zur Antragstellung in der Botschaft (vgl. nur OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Januar 2022 - OVG 3 S 87/21 - juris Rn 15 ff., 20). Ob diese Rechtsprechung im Hinblick auf mit Angaben zur Behördenpraxis verbundene Kritik (vgl. Müller/Ronte/Ujkašević, ZAR 2023, 68 ff.) zu überdenken ist, bedarf hier nicht der Entscheidung. Der Senat hat nämlich stets betont, dass die Stellung eines Visumantrags grundsätzlich auch formlos möglich ist, etwa durch ein Schreiben an die (zuständige) Botschaft, wenn aus diesem hinreichend deutlich hervorgeht, dass die Erteilung eines Visums beantragt wird [...]. Hier hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mit ihrem Schreiben vom 19. Februar 2021, der Botschaft Beirut am selben Tag per E-Mail übermittelt, erklärt, "die Familie" (darunter der Kläger) habe unter dem 19. Dezember 2019 erneut einen Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung gestellt, nunmehr zu der in Deutschland anerkannten Schutzberechtigten Frau ..., geb. am .... Die fristwahrende Anzeige werde beigefügt. Über diesen Antrag sei bisher nicht entschieden worden. Unabhängig von der Richtigkeit der dem zu Grunde liegenden Wertung, mit der fristwahrenden Anzeige sei bereits ein Antrag gestellt worden, lässt sich diesem an die Botschaft gerichteten Schreiben selbst mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass die Personen, für die die fristwahrende Anzeige abgegeben wurde, den Familiennachzug zu ihrer namentlich (und unter Angabe ihres Geburtsdatums) bezeichneten, subsidiär schutzberechtigten Mutter, und zu diesem Zweck die Erteilung eines Visums erstreben. Die Beklagte nimmt daher zu Recht an, dass mit Eingang dieses Schreibens der Rechtsanwältin bei der Botschaft (in Verbindung mit den beigefügten fristwahrenden Anzeigen) am 19. Februar 2021, als der Kläger noch minderjährig war, ein formloser Visumantrag gestellt worden ist. Dementsprechend hatte sie der Rechtsanwältin schon in ihrer E-Mail vom 22. Februar 2021 mitgeteilt, die fristwahrende Anzeige könne zur Wahrung der Altersgrenze für den Kindernachzug herangezogen werden. [...]
Es kann dahinstehen, ob ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, der vorliegt, wenn ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist. Der Kläger ist zum jetzigen Zeitpunkt - wie schon bei der Entscheidung der Beklagten über den Visumantrag - nicht mehr minderjährig. Es mag einiges dafür sprechen, für das Vorliegen eines humanitären Grundes nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenso auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen wie für § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Darauf kommt es indessen nicht entscheidungserheblich an, weil ein humanitärer Grund nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls jedenfalls ein unbenannter humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben ist. [...]
Der Kläger hält sich in Syrien auf, seinem Herkunftsstaat und dem seiner Mutter, der mit Bescheid vom 28. November 2019 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Es entspricht seit etwa zwölf Jahren der gerichtsbekannten Praxis des BAMF, syrischen Staatsangehörigen, die in Deutschland einen Antrag auf Flüchtlingsschutz stellen, jedenfalls den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, der nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG an das Bestehen stichhaltiger Gründe für die Annahme eines im Herkunftsland drohenden ernsthaften Schadens im Sinne des Satzes 2 anknüpft, etwa der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). [...] Unabhängig von diesen Erwägungen ergibt sich auch aus dem vom Verwaltungsgericht angeführten EUAA-Bericht von Februar 2023 (EUAA, Country Guidance: Syria, Februar 2023, S. 39), dass in Gouvernement ..., aus dem der Kläger stammt und wo er sich weiterhin aufhält, ein so hoher Grad willkürlicher Gewalt besteht, dass eine in das Gebiet zurückkehrenden Zivilperson allein wegen ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Gefahr (real risk) im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU ausgesetzt wäre. Für den Kläger als jungen Mann im wehrdienstfähigen Alter wäre die Gefahr eher noch höher. [...]
Unabhängig davon ist jedenfalls unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein sonstiger - unbenannter - humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben. Dessen Formulierung "Humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift liegen insbesondere vor, wenn" einer der anschließend unter Nummern 1 bis 4 aufgeführten Gründe gegeben ist, zeigt, dass diese Aufzählung nicht abschließend, sondern offen für die Annahme unbenannter humanitärer Gründe auf der Grundlage einer Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ist. [...]