VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 09.03.2023 - 38 K 919/21 V - asyl.net: M31961
https://www.asyl.net/rsdb/m31961
Leitsatz:

Kindernachzug mittlerweile volljähriger Person zu subsidiär Schutzberechtigter aus humanitären Gründen:

"1. Ab wann die (Wieder-) Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist und der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt, ist für jede der im Rahmen des § 36a Abs. 1 AufenthG in Betracht kommenden Fallkonstellationen (Kindernachzug, Ehegattennachzug und Elternnachzug) gesondert festzustellen (Rn. 38).

2. Im Falle des Kindernachzuges (§ 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) eines mittlerweile volljährigen Visumsantragstellers liegt der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG regelmäßig ab einer Trennungszeit von vier Jahren vor, wenn nicht die Besonderheiten des Einzelfalles eine Verkürzung (oder Verlängerung) der Frist erfordern (Rn. 45).

3. Der humanitäre Grund der Betroffenheit eines minderjährigen, ledigen Kindes (§ 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) ist bei einer mittelbaren Betroffenheit eines Minderjährigen nur dann erfüllt, wenn Interessen des Kindeswohles berührt sind. Dies ist regelmäßig dann nicht der Fall, wenn im Falle des Kindernachzuges eines mittlerweile Volljährigen zu dessen Eltern mittelbar die minderjährigen Geschwister des den Nachzug Begehrenden betroffen sind (Rn. 49).

4. Der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG kann auch bei nicht rein familien­bezogenen Umständen erfüllt sein, namentlich dann, wenn alleine aufgrund der Anwesenheit des den Nachzug Begehrenden an seinem Aufenthaltsort dessen Leib, Leben und/oder Freiheit ernsthaft gefährdet sind. Zur Feststellung, ob dies der Fall ist, oder ob individuelle, in der Person des den Nachzug Begehrenden liegende Umstände hinzutreten müssen, kann auf Herkunftslandinformationen zurückgegriffen werden.

5. Es ist grundsätzlich zulässig, bei der Ermessensentscheidung nach § 36a Abs. 1 AufenthG Integrations­aspekte einzubeziehen (Fortführung der Rechtsprechung der Kammer, [...])."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 08.12.2022 - 1 C 8.21 - asyl.net: M31119; VG Berlin, Urteil vom 07.01.2022 - 38 K 380/21 V (Asylmagazin 9/2022, S. 327 ff.) - asyl.net: M30388)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, Kindernachzug, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, humanitäre Gründe, Ermessen, Auswahlentscheidung,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, AufenthG § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, AufenthG § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, AufenthG § 36a Abs. 1
Auszüge:

[...]

21 III. Die Klage ist überwiegend begründet. Durch die Nichtberücksichtigung seines Visumantrages bei der Auswahlentscheidung des Bundesverwaltungsamtes nach § 36a Abs. 2 Sätze 2 und 3 AufenthG wird der Kläger in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Denn er hat zwar keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums, wohl aber auf Berücksichtigung seines Visumantrages im Rahmen dieser Auswahlentscheidung.

22 1. Der Anspruch des Klägers auf Berücksichtigung seines Visumantrages bei der Auswahlentscheidung des Bundesverwaltungsamtes folgt aus § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG.

23 Nach § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung eines nationalen Visums nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT-Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU geltenden Vorschriften. Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der – wie die Stammberechtigte – eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die allgemeinen Visumserteilungsvoraussetzungen (dazu a.) und die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG (b.) sind vorliegend erfüllt. Zudem hat sich das auf Rechtfolgenseite bestehende Ermessen der Beigeladenen in einer Weise verdichtet, dass eine Verweigerung der Zustimmung nach § 31 Aufenthaltsverordnung – AufenthV – ermessensfehlerfrei nicht ausgesprochen werden kann und der Visumantrag des Klägers bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Sätze 2 und 3 AufenthG zu berücksichtigen ist (c.); die Beklagte hat dementsprechend ihr Ermessen zugunsten des Klägers ausgeübt (d.). Die sodann noch anstehende Auswahlentscheidung kann das Gericht nicht selbst anstelle der Beklagten vornehmen (e.).

24 Da die Anwendbarkeit des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG an eine Altersgrenze gebunden ist – die Minderjährigkeit des Klägers – gilt im Hinblick auf die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen die Prämisse, dass eine Doppelprüfung anzustellen ist, und zwar bezogen zum einen auf den Zeitpunkt des Erreichens bzw. kurz vor dem Erreichen der Altersgrenze, zum anderen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (so ausdrücklich zu § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – BVerwG 1 C 8/21 –, juris Rn. 8 f.). In beiden Zeitpunkten müssen alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, denn der Umstand, dass eine Anspruchsgrundlage nach Eintritt der Volljährigkeit anwendbar bleibt, soll nicht dazu führen, dass der (zunächst noch) minderjährige Visumsantragsteller Sachverhaltsänderungen zu seinen Gunsten nach Vollendung des 18. Lebensjahres geltend machen kann, die bei rechtmäßiger Bescheidung seines Antrags nie zu einem Anspruch hätten führen können [...].

25 a. Die allgemeinen Visumserteilungsvoraussetzungen lagen und liegen vor. [...]

26 b. Die tatbestandlichen Erteilungsvoraussetzungen des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG waren und sind ebenfalls erfüllt.

27 aa. Der Kläger ist in rechtlicher Hinsicht der Sohn der Stammberechtigten, die im Besitz einer noch bis zum 13. September 2023 gültigen Aufenthaltserlaubnis für subsidiär Schutzberechtigte (§ 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) ist, welche ihr erstmals am 26. Mai 2020 und somit vor dem Erreichen der im Rahmen des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG relevanten Altersgrenze (Eintritt der Volljährigkeit des Klägers) erteilt wurde.

28 bb. Er war zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt minderjährig.

29 Der für die Feststellung der Minderjährigkeit entscheidende Zeitpunkt ist nicht derjenige der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung, sondern derjenige der Stellung des Visumsantrages [...]. Als Antrag in diesem Sinne ist dabei grundsätzlich die (formlos mögliche) Antragstellung bei der Auslandsvertretung der Beklagten anzusehen. [...]

30 Vorliegend wurde der Visumsantrag bei entsprechender Auslegung des von der Verfahrensbevollmächtigten an die Botschaft gesendeten Schreibens schon am ... 2021 und damit (kurz) vor dem Eintritt der Volljährigkeit des Klägers (... 2021) gestellt. [...]

31 cc. Ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 AufenthG lag kurz vor Eintritt der Volljährigkeit des Klägers und liegt zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch vor.

32 Die Erteilung eines Visums nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG setzt das Vorliegen von humanitären Gründen voraus. Humanitäre Gründe sind in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Form von Regelbeispielen aufgezählt (zum nicht abschließenden Charakter des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG siehe die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 19/2438, S. 22 [...].

33 (1) Der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG war und ist auf Seiten des Klägers (noch) nicht erfüllt.

34 Nach der Vorschrift liegt ein humanitärer Grund vor, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist. Dies ist hier nicht der Fall.

35 Nach Auffassung der Kammer sind bei der Frage, wann eine lange Trennungszeit in Fällen des Kindernachzuges des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG vorliegt, sowohl das Alter als auch die sonstige Lebenssituation des den Nachzug begehrenden Kindes ausschlaggebend und ist in der vorliegenden Fallkonstellation erst ab einer Trennung von mehr als vier Jahren die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft "seit langer Zeit" nicht möglich. Diese Frist war weder bei Eintritt der Volljährigkeit des Klägers abgelaufen noch ist dies zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage der Fall. [...]

38 Nach Auffassung der Kammer kann nun der nicht legaldefinierte Begriff der "langen Zeit" im Sinne einer Mindestdauer, ab wann diese anzunehmen ist, zunächst nicht allgemeingültig und für alle denkbaren Fallkonstellationen des § 36a Abs. 1 AufenthG gleich ausgelegt werden [...]. So ist zu bedenken, dass der Personenkreis der grundsätzlich Anspruchsberechtigten sehr unterschiedlich ist. Hier ist zwischen dem Nachzug eines minderjährigen, ledigen Kindes (§ 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) mit dessen Bedürfnisses nach elterlichem Beistand, dem Elternnachzug (§ 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und dem Nachzug von Ehepartnern (§ 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) zu unterscheiden. Da der verfassungs- und konventionsrechtliche Schutz dieser Personengruppen nach dem Alter und insbesondere der Lebenssituation der den Nachzug begehrenden Person differenziert, ist auch die Berechnung der relevanten Zeiträume anhand dieser Kriterien und für jede denkbare Fallkonstellation gesondert vorzunehmen. [...]

42 Davon ausgehend, sind nach der Auffassung der Kammer zunächst ansetzend am Alter des Visumsantragstellers und der daraus folgenden im Regelfall abgestuften Angewiesenheit auf elterlichen Beistand folgende Fristen angemessen:

43 Handelt es sich bei der den Nachzug begehrenden Person zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Visumsantrag noch um einen minderjährigen Ausländer im Neugeborenen- bzw. Säuglingsalter (bis zum vollendeten zwölften Lebensmonat) oder im Kleinkindesalter (Beginn des zweiten bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres), ist ohne das Hinzutreten weiterer besonderer Umstände des Einzelfalles eine Frist von einem Jahr angemessen. [...]

44 Wird sodann im Kindesalter (Beginn des vierten bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres) über den Visumsantrag entschieden, ist ohne das Hinzutreten weiterer besonderer Umstände des Einzelfalles eine Frist von 18 Monaten angemessen. Erfolgt während der Jugendzeit des Visumsantragstellers (13. bis vollendetes 18. Lebensjahr) eine Entscheidung über den Antrag, ist eine Frist von zwei Jahren anzusetzen. Diese Frist entspricht der Hälfte der Trennungszeit, welche nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes einem kinderlosen Ehepaar höchstens zuzumuten ist, wenn eine (Wieder-) Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug Begehrenden nicht in Betracht kommt (BVerwG, a.a.O., juris Rn. 36), und kann auf den hiesigen Fall übertragen werden. Sowohl in diesem Fall des Ehegattennachzuges als auch im Fall des Nachzuges eines jugendlichen Visumsantragstellers spielen die Implikationen des Art. 6 GG eine gewisse Rolle, da in beiden Fällen jeweils die Kernfamilie betroffen ist.

45 Tritt schließlich die Volljährigkeit schon vor der Entscheidung über den Visumsantrag ein – überschreitet der Visumsantragsteller mithin bereits zuvor die Schwelle zum Erwachsenenalter – und bestehen ansonsten keine Besonderheiten des Falles im Hinblick auf die Angewiesenheit des Visumsantragstellers auf den sich in der Bundesrepublik aufhaltenden Elternteil, ist eine (Regel-) Frist von vier Jahren bis zur Annahme einer "langen Zeit" im Sinne des § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG angemessen. [...]

46 Starre Fristen werden dem Einzelfall nicht (immer) gerecht, so dass die dargestellten Fristen aufgrund der weiteren Umstände des Einzelfalles entweder verkürzt oder verlängert werden können. [...]

47 Angewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass zum Zeitpunkt des Erreichens der relevanten Altersgrenze (Eintritt der Volljährigkeit des Klägers) noch keine lange Zeit im Sinne der Norm verstrichen war. Die Stammberechtigte hatte erst am 5. November 2019 einen Asylantrag gestellt und war auch erst einige Tage zuvor in die Bundesrepublik eingereist. Bis zum Eintritt der Volljährigkeit am ... 2021 vergingen mithin lediglich ein Jahr und knapp mehr als vier Monate. Auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 9. März 2023 ist der Zeitraum noch nicht abgelaufen. Besonderheiten, aufgrund derer die nach den obigen Ausführungen anzusetzende Frist von vier Jahren verkürzt werden könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. [...]

48 (2) Der humanitäre Grund der Betroffenheit eines minderjährigen, ledigen Kindes – § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG – lag zwar kurz vor Erreichen der Altersgrenze vor, ist aber in dem bei der anzustellenden Doppelprüfung ebenfalls erheblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage nicht mehr gegeben, da der Kläger schon kurz nach Stellung des Visumsantrages, nämlich am ... 2021, volljährig geworden ist.

49 In der vorliegenden Fallkonstellation liegt überdies keine beachtliche mittelbare Betroffenheit eines minderjährigen Kindes vor, die ebenfalls zur Annahme des humanitären Grundes des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG führen könnte. Eine solche kommt vorliegend nur insoweit in Betracht, als sich mit ..., geboren ... 2009 und ..., geboren ... 2013, zwei zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage noch minderjährige Geschwister des Klägers in der Bundesrepublik aufhalten. Dies genügt nicht, um den humanitären Grund zu bejahen. [...] Regelmäßig und auch hier ist im Fall des Nachzugsbegehrens eines Geschwisterkindes bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Eltern und weiterer Geschwister die (mittelbare) Betroffenheit im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht anzunehmen, da – sofern der Einzelfall nicht ganz besonders gelagert ist – nicht ersichtlich ist, dass die minderjährigen Geschwister des Klägers aus den genannten Gründen gerade auf dessen Anwesenheit im Bundesgebiet angewiesen wären und ihrem Wohl nur durch seine Unterstützung und Anwesenheit Genüge getan werden könnte. Derlei Besonderheiten des Einzelfalles sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich.

50 Eine "Konservierung" des humanitären Grundes des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG insoweit, als dieser – wie die Minderjährigkeit im Sinne des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG – durch eine rechtzeitige Stellung des Visumsantrages erhalten bleibt, ist schließlich nicht angezeigt. Das Abstellen auf den Zeitpunkt des Visumsantrages soll lediglich die grundsätzliche Anwendbarkeit der Anspruchsgrundlage, allerdings nicht weitere Tatbestandsvoraussetzungen "sichern". [...]

51 (3) Demgegenüber streitet der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG für den Kläger. Dessen Voraussetzungen sind erfüllt, wenn Leib, Leben oder Freiheit des Ehegatten, des minderjährigen ledigen Kindes oder der Eltern eines minderjährigen Ausländers im Aufenthaltsstaat ernsthaft gefährdet sind. Dies ist hier der Fall. [...]

53 Da der Kläger, der im militärdienstpflichtigen Alter ist, nach wie vor in Syrien und dort in dem Gouvernement ... lebt, ist nach den aktuellen auf Syrien bezogenen Erkenntnissen davon auszugehen, dass alleine aufgrund seiner Anwesenheit sein Leib, sein Leben und seine Freiheit ernsthaft gefährdet sind und der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vorliegt.

54 Im Rahmen des Prüfprogrammes des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bestehen deutliche Überschneidungen zur Prüfung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG [...]. Angesichts dessen ist nach Auffassung der Kammer auch eingedenk des Umstandes, dass nach der (bisherigen) gesetzgeberischen Grundkonzeption im Zuge eines Visumsverfahrens grundsätzlich keine Asylprüfung angestellt werden sollte, die Prüfung des humanitären Grundes des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG der Prüfung des § 4 AsylG anzunähern. Die dem Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a zugrunde liegende Sachlage unterscheidet sich zwar, worauf in der Kommentar - literatur zurecht hingewiesen wird, von der Asylbeantragung dadurch, dass der humanitäre Grund auf die Herstellung der familiären Gemeinschaft und nicht auf die Zuerkennung einer eigenständigen internationalen Schutzberechtigung bezogen ist [...].

55 Dessen ungeachtet entspricht es angesichts der Ausführungen in der Gesetzesbegründung, ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG liege vor, wenn die den Nachzug begehrenden Person nicht nur abstrakt von Gewalt bedroht sei, dem Willen des Gesetzgebers, bei der Prüfung dieses humanitären Grundes (ausnahmsweise) auch andere als rein familienbezogene Umstände in den Blick zu nehmen (z.B. die ebenfalls in der Gesetzesbegründung genannte drohende Rekrutierung als Kindersoldat). Der Gesetzgeber hat, wie sich auch aus der Formulierung des § 36a Abs. 2 AufenthG ergibt ("Humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift liegen insbesondere vor, wenn…"), eine für diese Norm allein gültige Konzeption der humanitären Gründe vorgesehen und ist insoweit jedenfalls bezüglich des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bewusst von dem Erfordernis eines konkreten Familienbezuges abgewichen. [...]

56 Die Kammer greift für die Beantwortung der Frage, ob für den Kläger aufgrund seines Aufenthaltes in Syrien und insbesondere im Gouvernement Deir Ez-Zor eine ernsthafte Gefährdung von Leib, Leben und Freiheit gegeben war und ist, auf die insoweit veröffentlichten Erkenntnisse zurück, insbesondere auf den von dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) veröffentlichten Bericht "Leitfaden: Syrien" [...]. In beiden Berichten ist das Gouvernement Deir Ez-Zor als Gebiet eingestuft, in dem aufgrund des herrschenden Grades willkürlicher Gewalt alleine die Anwesenheit dort als ausreichend erachtet wird, um die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 lit. c) QualifikationsRL anzunehmen [...].

57 Überdies besteht für den Kläger keine realistische Möglichkeit, seinen Wohnsitz innerhalb Syriens in ein sichereres Gebiet zu verlegen. [...]

58 Soweit schließlich nach dem Wortlaut der Vorschrift die benannten Gefahren nur dann zur Annahme eines humanitären Grundes führen können, wenn diese dem "Ehegatten, dem minderjährigen ledigen Kind oder den Eltern eines minderjährigen Ausländers" drohen, führt dies vorliegend nicht zur Unanwendbarkeit der Norm auf den nunmehr volljährigen Kläger. [...]

59 (4) Abschließend liegt der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nicht vor, da nicht ersichtlich ist, dass die Stammberechtigte oder aber der Kläger selbst schwerwiegend erkrankt oder pflegebedürftig im Sinne schwerer Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten ist oder eine schwere Behinderung hat. [...]

60 c. Die Verweigerung der nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV erforderlichen Zustimmung durch die Beigeladene war in ihren Erwägungen ermessensfehlerhaft.

61 Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV bedarf ein Visum der vorherigen Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Ausländer sich zu anderen Zwecken als zur Erwerbstätigkeit oder zur Arbeits- oder Ausbildungsplatzsuche länger als 90 Tage im Bundesgebiet aufhalten will. [...]

62 aa. Die Kammer hat bereits Leitlinien für die Ausübung des nach § 36a Abs. 1 AufenthG eröffneten Ermessens der am Visumsverfahren beteiligten Ausländerbehörde entwickelt (jüngst VG Berlin, Urteil vom 22. August 2022 – VG 38 K 437/21 V –, juris Rn. 42 ff.). Die Prüfung der zuständigen Ausländerbehörde am beabsichtigten Wohnsitz, ob der Visumserteilung nach § 31 AufenthV zugestimmt wird, unterliegt grundsätzlich demselben Prüfprogramm wie die Entscheidung der zuständigen Auslandsvertretung der Beklagten über die Visumserteilung. Soweit die einschlägigen gesetzlichen Regelungen den zuständigen Behörden insoweit einen Ermessensspielraum eröffnen, ist es grundsätzlich zulässig, Integrationsaspekte in die Ermessenserwägungen einzubeziehen. [...]

63 Zugleich wirkt sich auf die Ermessensbetätigung nach § 36a Abs. 1 AufenthG allerdings aus, dass die Integrationsaspekte auf einer nachfolgenden Verfahrensstufe nochmals zu beachten sind. Denn nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG können monatlich (nur) 1.000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG erteilt werden. Überschreitet in einem Monat die Anzahl der Visumanträge, bei denen die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind und zudem eine positive individuelle Ermessensentscheidung getroffen wurde, dieses Kontingent, ist eine Auswahl zwischen den Visumanträgen zu treffen (sog. Bestimmungs- oder Quotierungsverfahren). Diese Auswahlentscheidung wird in der Verwaltungspraxis nicht durch eine der Auslandsvertretungen oder das Auswärtige Amt vorgenommen, sondern durch das Bundesverwaltungsamt als zentralem Dienstleister des Bundes im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums. Dabei ist das Bundesverwaltungsamt dazu verpflichtet, sich bei der Auswahlentscheidung (neben humanitären Gesichtspunkten und dem Kindeswohl) auch an Integrationsaspekten zu orientieren [...].

65 Aus der Pflicht zur zweifachen Beachtung der Integrationsaspekte ergibt sich, dass der von § 36a Abs. 1 AufenthG eröffnete Ermessensspielraum (der Auslandsvertretung und der Ausländerbehörde) durch den Gesetzgeber in diesem Aspekt deutlich eingeschränkt wurde. Auf der Stufe der individuellen Ermessensbetätigung können nur eindeutige Fälle der mangelnden Integration bzw. der fehlenden Integrationschancen zu einer Versagung des Visums bzw. zu einer Versagung der Zustimmung zur Visumserteilung (§ 31 AufenthV) führen. Solange eine Mindestschwelle der Integration bzw. Integrationsbemühungen erreicht wird, ist die Güte dieser Bemühungen bzw. der daraus folgenden Integrationschancen hingegen allein für die nachfolgende, durch das Bundesverwaltungsamt zu treffende Auswahlentscheidung maßgeblich (VG Berlin, Urteil vom 7. Januar 2022 – VG 38 K 380/21 V –, juris Rn. 39). [...]