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BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 24.04.2024 - 1 C 8.23 - asyl.net: M32701
https://www.asyl.net/rsdb/m32701
Leitsatz:

Unzulässigkeitsentscheidung im Asylverfahren bei Vorliegen eines Familienverbandes:

1. Die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze, wonach regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie in das Herkunftsland auszugehen ist, gelten auch im Rahmen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn ein anderer europäischer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat. Die Mitglieder eines Familienverbandes werden im Regelfall bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband fortzusetzen. 

2. Für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes kommt es auf die den Antragstellenden individuell drohenden Gefahren an.  Die aus den familiären Solidarpflichten resultierenden Folgen für die Existenzsicherung des Antragstellers sind dabei in die Gefahrenprognose einzubeziehen. 

3. Bei der Rückführung von Familien mit Kindern ist nicht stets und unabhängig von der aktuellen Erkenntnislage und den Umständen des Einzelfalls eine individuelle Zusicherung oder eine allgemeine Erklärung der Behörden des aufnehmenden Mitgliedstaates erforderlich.

4. Die allgemeinen Regelungen der asylverfahrensrechtlichen Abschiebungsandrohung des § 34 AsylG gelten auch bei Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, beispielsweise hinsichtlich der Schriftform und der Entbehrlichkeit der Anhörung und sind ergänzend zu den §§ 35 bis 37 AsylG heranzuziehen. 

(Leitsätze der Redaktion, siehe zur isolierten Aufhebung einer negativen Staatenbezeichnung in der Abschiebungsandrohung auch: BverwG, Urteil vom 13.12.2023 - 1 C 34.22 - asyl.net: M32178) 

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Familieneinheit, Abschiebungsverbot, Abschiebungsandrohung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34, AsylG § 35, AsylG § 36, AsylG § 37
Auszüge:

[...]

b) Bei der Beurteilung der Frage, ob diese Schwelle im vorliegenden Fall überschritten ist, hat der Verwaltungsgerichtshof zu Recht angenommen, dass die im Hinblick auf Abschiebungsverbote aufgestellte Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie in den Herkunftsstaat auf die Prognose einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat zu übertragen ist. Die hierzu vom Senat entwickelten Grundsätze [...] finden auch im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG Anwendung [...].

Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach – obwohl das nationale Recht keinen "Familienabschiebungsschutz" kennt – für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Prognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Annahme rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne "gelebte" Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der – nicht auf Kernfamilien beschränkte – Schutzbereich des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein, rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr. Diese ist andererseits der Prognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist [...]. Diese Rechtsprechung ändert nichts daran, dass ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG eine individuelle Rechtsposition begründet, die nur auf Gefahren gestützt werden kann, die dem Ausländer selbst drohen [...]. Vielmehr geht es lediglich darum, die aus der Anwesenheit von Angehörigen der Kernfamilie und der anzunehmenden Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten resultierenden Folgen für die Existenzsicherung des Antragstellers selbst in die Gefahrenprognose einzubeziehen [...].

Dieses von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte geprägte Verständnis ist nicht nur der im Rahmen von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG anzustellenden Gefahrenprognose, sondern ebenso bei der rechtlichen Beurteilung der bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Hinblick auf Art. 4 GRC drohenden Gefahrenlage zugrunde zu legen. Angesichts der Wertungen, die Art. 6 GG und Art. 8 EMRK für die Interpretation der hier maßgeblichen nationalen und unionsrechtlichen Vorschriften vorgeben, ist für eine abweichende, nur die Situation des Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung berücksichtigende Prognosebasis grundsätzlich kein Raum, da sie nicht nur an der Lebenswirklichkeit, sondern auch an zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben vorbeiginge. [...]

c) Nicht mit Bundesrecht vereinbar ist die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung verstoße gemessen an den dargelegten Maßstäben gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK. Dieses Ergebnis wird von den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht getragen und genügt daher den revisionsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die richterliche Überzeugungsbildung nicht [...]. Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK erfordern entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichtshofs bei der Rückführung von Familien mit Kindern nicht stets und unabhängig von der aktuellen Erkenntnislage und den Umständen des Einzelfalls eine individuelle Zusicherung oder eine allgemeine Erklärung der Behörden des aufnehmenden Mitgliedstaates. Die auf dieser Grundlage entwickelte entscheidungstragende Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, es sei zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Klägers nach Italien gemeinsam mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich bereits aus dem Alter der 2013 und 2015 in Italien geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt sei, stützt sich auf eine unzureichende, zu schmale Tatsachengrundlage. [...]

Vorrangig ist aber regelmäßig zu prüfen, ob auf der Grundlage der aktuellen Auskunftslage zu den Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung der individuellen Situation des oder der Schutzberechtigten unmenschliche oder erniedrigende Lebensbedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlich-keit zu erwarten sind; nur dann stellt sich die Frage einer einzelfallbezogenen Zusicherung. An einer solchen Ermittlung und Würdigung der aktuell in Italien zu erwartenden Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte fehlt es hier. [...]

Hierzu gehört neben der allgemeinen Lage in Italien in erster Linie die persönliche Situation des Klägers, in die dieser im Falle einer Rückkehr nach Italien geraten wird. Dabei wird namentlich zu berücksichtigen sein, dass der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts neun Jahre in Italien gelebt und gearbeitet hat und nach eigenen Angaben dort auch Familienmitglieder und Freunde leben. Denn Ausländer können sonst bei Rückführungen in andere Mitgliedstaaten – anders als bei einer Rückführung in ihre Herkunftsländer – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen [...].

Der Verwaltungsgerichtshof wird gegebenenfalls zudem der Frage nachzugehen haben, ob der an den Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft geknüpfte Regelfall nicht oder nicht mehr vorliegt [...].

4. Die – teilweise – Aufhebung der gegenüber dem Kläger ergangenen Abschiebungsandrohung durch den Verwaltungsgerichtshof verstößt gegen Bundesrecht. Zum einen hätte die negative Bezeichnung des Staates Nigeria nicht von der Aufhebung ausgenommen werden dürfen [...]. Zum anderen ist die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung an § 34 AsylG in der nach Ergehen des Berufungsurteils am 27. Februar 2024 in Kraft getretenen Fassung zu messen, die sich aus Art. 2 Nr. 9, Art. 11 Abs. 1 des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54) ergibt. [...]

a) § 34 AsylG ist auf die angefochtene Abschiebungsandrohung ergänzend anzuwenden. Sie findet ihre unmittelbare Rechtsgrundlage in § 35 AsylG i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. § 35 AsylG verdrängt die Regelungen des § 34 AsylG nicht, sondern ergänzt und modifiziert sie für den Fall der Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, indem sie den Zielstaat der angedrohten Abschiebung bestimmt. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ergeht die Abschiebungsandrohung bei nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG unzulässigen Asylanträgen ohne umfassende Sachprüfung des Asylbegehrens (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 - 10 C 13.11 - NVwZ-RR 2013, 431 Rn. 16).

Die allgemeinen Regelungen des § 34 AsylG gelten damit für die asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung auch bei Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, soweit sich aus den §§ 35 bis 37 AsylG keine Besonderheiten ergeben (vgl. BVerwG, Urteile vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 48 und vom 13. Dezember 2023 - 1 C 34.22 - juris Rn. 25). § 35 AsylG regelt die formale und inhaltliche Ausgestaltung einer asylverfahrensrechtlichen Abschiebungsandrohung in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG nur zum Teil. Die Vorschrift setzt die Einhaltung weiterer Vorgaben des § 34 AsylG – beispielsweise hinsichtlich der Schriftform und der Entbehrlichkeit der Anhörung – voraus, mit der Folge, dass § 34 AsylG ergänzend anzuwenden ist (vgl. Pietzsch, in: Kluth/Heusch, Beck-OK AuslR, Stand April 2023, § 35 AsylG Rn. 2; Hailbronner, AuslR, Stand August 2022, § 35 AsylG Rn. 2; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Stand März 2018, § 35 Rn. 6). [...]