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BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Entscheidung vom 13.12.2023 - 1 C 34.22 - asyl.net: M32178
https://www.asyl.net/rsdb/default-084d339ad4
Leitsatz:

Kein isolierter Fortbestand einer negativen Staatenbezeichnung bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung (obiter dictum): 

1. Bei der Auslegung des Klageantrags ist das Gericht an den ausdrücklich und unmissverständlich erklärten Willen des Klägers gebunden. Es darf nicht über einen Gegenstand entscheiden, den der Kläger nicht zur Entscheidung des Gerichts gestellt hat.

2. Überwiegendes spricht dafür, dass eine sogenannte negative Staatenbezeichnung im Sinne der § 59 Abs. 3 Satz 2 und § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG nicht unabhängig von einer Abschiebungsandrohung Bestand haben kann.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, internationaler Schutz in EU-Staat, negative Staatenbezeichnung, Auslegung, Klageantrag, isolierte Anfechtung
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 59 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 59 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 59 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 10 Satz 2, VwGO § 88
Auszüge:

[...]

3. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Unter Verstoß gegen § 88 VwGO hat das Verwaltungsgericht den von der Klägerin ausdrücklich gestellten Klageantrag auf Teilaufhebung der Abschiebungsandrohung (mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung) als Antrag auf vollständige Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes ausgelegt und die Abschiebungsandrohung insgesamt aufgehoben. Ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt der Unteilbarkeit der negativen Staatenbezeichnung von der übrigen Abschiebungsandrohung hätte das Verwaltungsgericht den hierauf bezogenen Anfechtungsantrag abweisen müssen. Es hat jedoch eine Sachentscheidung zu einem Gegenstand getroffen, der nicht zu seiner Entscheidung gestellt war. Dies führt zur Änderung der Berufungsentscheidung und des erstinstanzlichen Urteils mit der Folge, dass die negative Staatenbezeichnung aus rein prozessrechtlichen Gründen Bestand hat.

a. Die Auslegung des klägerischen Begehrens durch die Vorinstanzen im Sinne einer vollständigen Aufhebung des Bescheides (einschließlich der negativen Staatenbezeichnung) entgegen dem ausdrücklich auf eine Teilaufhebung beschränkten Antrag der Klägerin verstößt gegen § 88 VwGO. Ein solcher Verstoß ist im Revisionsverfahren unabhängig vom Vorliegen einer Verfahrensrüge von Amts wegen zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 22. Mai 2014 - 3 C 8.13 - BVerwGE 149, 343 Rn. 21 und vom 1. September 2016 - 4 C 4.15 - BVerwGE 156, 94 Rn. 11).

§ 88 VwGO verpflichtet das Gericht, den Klageantrag sachgerecht in Übereinstimmung mit dem Rechtsschutzziel des Klägers auszulegen. Es ist nicht an die Fassung der Anträge gebunden, darf aber nicht über das Klagebegehren hinausgehen. Dabei ist es wegen der Dispositionsbefugnis des Klägers an dessen ausdrücklich und unmissverständlich erklärten Willen gebunden. Insbesondere ist es dem Gericht verwehrt, an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie – nach Meinung des Gerichts – zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 - 8 C 5.12 - Buchholz 451.65 Börsenrecht Nr. 7; Beschluss vom 29. August 1989 - 8 B 9.89 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 17).

Gemessen hieran war dem Verwaltungsgericht die von ihm vorgenommene Auslegung verwehrt. Die Klägerin hat sich im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mehrfach schriftsätzlich gegen die Erstreckung ihres Klageantrags auf die negative Staatenbezeichnung gewandt und – auch nach Kenntnisnahme von der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Teilbarkeit im Gerichtsbescheid – auf der eingeschränkten Antragstellung ausdrücklich und unmissverständlich beharrt. Angesichts dieser klaren und nicht weiter auslegungsfähigen Äußerungen kann offenbleiben, inwieweit es bei einem die negative Staatenbezeichnung ausnehmenden Antrag auf Aufhebung einer Abschiebungsandrohung dem regelmäßigen Interesse des Ausländers entspricht, jedenfalls hilfsweise (für den Fall der Unteilbarkeit) auch die uneingeschränkte Aufhebung der Abschiebungsandrohung zu begehren. Das Verwaltungsgericht hätte daher lediglich über den Antrag, die Abschiebungsandrohung ohne die negative Staatenbezeichnung aufzuheben, entscheiden dürfen und auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung die Klage insoweit abweisen müssen. Diese Entscheidung kann allerdings auf die allein von der Klägerin eingelegten Rechtsmittel hin im Berufungs- und Revisionsrechtszug nicht nachgeholt werden (§§ 129, 141 Satz 1 VwGO), sodass es mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung bei der Aufhebung des angefochtenen Bescheides – und damit auch der Abschiebungsandrohung im Übrigen (Nr. 3 Satz 1 bis 3 des Bescheides) – bleibt.

b. Auch wenn der Senat danach nicht mehr abschließend darüber zu entscheiden brauchte, spricht Überwiegendes dafür, dass die Auffassung der Vorinstanzen, die negative Staatenbezeichnung könne bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung im Übrigen nicht selbstständig fortbestehen, mit Bundesrecht im Einklang steht.

Das Oberverwaltungsgericht dürfte zu Recht die Teilbarkeit einer mit einer negativen Staatenbestimmung verbundenen Abschiebungsandrohung verneint und damit eine Aufhebung nur der letzteren für nicht rechtmäßig erachtet haben. Eine Teilbarkeit setzt – wie bereits dargelegt – voraus, dass die rechtlich unbedenklichen Teile nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Teil stehen, sondern als selbstständige Regelung weiter existieren können, ohne ihren ursprünglichen Bedeutungsgehalt zu verändern. Das Bestehen eines derartigen inneren Zusammenhangs ist durch Auslegung zu ermitteln, bei der der Bedeutungsinhalt der Gesamtregelung in den Blick zu nehmen und zu fragen ist, ob die Behörde die (Rest-)Regelung auch isoliert erlassen hätte [...].

(1) Gemessen hieran dürfte die negative Staatenbezeichnung von der Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Frist und der Bezeichnung eines Zielstaates gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG generell, jedenfalls aber im vorliegenden Fall nicht trennbar sein, sodass sie nur das Schicksal der genannten übrigen Bestandteile der Abschiebungsandrohung teilen kann.

Bereits nach dem Wortlaut der – gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch für den Erlass der vorliegenden asylrechtlichen Abschiebungsandrohung maßgeblichen – § 60 Abs. 10 Satz 2 und § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann die negative Staatenbezeichnung nur "in der Androhung" erfolgen. Sie schränkt die Abschiebungsandrohung lediglich dahingehend ein, dass die Abschiebung in den negativ bezeichneten Staat nicht erfolgen darf. Kann aber im Fall der Aufhebung der Abschiebungsandrohung schon nicht in den bezeichneten Zielstaat abgeschoben werden, hat eine Regelung zur Einschränkung der Abschiebung keinen Anknüpfungspunkt und keinen sinnvollen Regelungsgehalt mehr.

Dabei lässt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in den Urteilen vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - (BVerwGE 150, 29) und vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - (BVerwGE 164, 179) nicht den von der Revision gezogenen Schluss zu, es handele sich bei der negativen Staatenbezeichnung generell um eine von der Abschiebungsandrohung im Übrigen abtrennbare und selbstständig existenzfähige Teilregelung. In den beiden genannten Entscheidungen war den Klägern – anders als der Klägerin im vorliegenden Fall – jeweils in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Flüchtlingsschutz zuerkannt worden, so dass eine negative Staatenbezeichnung nach § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG zu ergehen hatte. Sollten einzelne Formulierungen in diesen Urteilen (vgl. namentlich BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 7) im Sinne einer Bejahung der selbstständigen Existenzfähigkeit der negativen Staatenbezeichnung zu verstehen sein, hält der Senat hieran nicht fest. [...]