VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17.07.2024 - 15a K 1766/22.A - asyl.net: M32634
https://www.asyl.net/rsdb/m32634
Leitsatz:

Ausnahme von der Pflicht zur Anforderungen von Unterlagen bei Schutz in anderem Mitgliedsstaat

1. Das Bundesamt darf einen Antrag auf internationalen Schutz einer Person, der bereits in einem anderen Mitgliedsstaat internationaler Schutz zuerkannt wurde, erneut selbstständig prüfen (s. EuGH, Urteil vom 18.06.2024 - C-753/22 - QY gg. Deutschland - asyl.net: M32485)

2. Eine solche eigenständige Entscheidung darf in Einzelfällen ergehen, ohne dass die Behörden des Zuerkennungsstaats um Übermittlung eventuell dort (noch) vorliegender Informationen, die zur dortigen Zuerkennung geführt haben, ersucht werden, wenn diese Unterlagen objektiv ungeeignet erscheinen, die entscheidungserhebliche Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich zu vervollständigen. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn die Zuerkennung in dem anderen Mitgliedstaat vor längerer Zeit erfolgte und die erneut schutzsuchende Person im hiesigen Asylverfahren keine individuellen Verfolgungsgründe und keine individuellen Umstände für einen ernsthaften Schaden vorträgt und angibt, solche auch im vorherigen Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat nicht geäußert zu haben. Denn in diesem Fall erschiene die Informationsanfrage gegenüber dem anderen Mitgliedstaat als bloße Förmelei und liefe dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung entgegen.

(Leitsätze der Redaktion. Anmerkung der Redaktion: Mit Bezug auf EuGH, Urteil vom 18.06.2024 - C-753/22 - QY gg. Deutschland - asyl.net: M32485. Die vom VG entwickelte Ausnahme der Pflicht zur Anforderung und Einbeziehung der Unterlagen aus dem anderen Mitgliedstaat wurde vom EuGH nicht in Betracht gezogen.)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1; AsylG § 4 Abs. 1; AsylG § 77 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt ist von Unionsrechts wegen befugt, den internationalen Schutz betreffenden Antrag des Klägers selbstständig zu prüfen, wenngleich griechische Behörden ihm internationalen Schutz zuerkannt hatten. Die Prüfung des Bundesamtes hat einzeln, objektiv und unparteiisch anhand genauer und aktueller Informationen zu erfolgen. Hierbei sind alle mit dem Herkunftsland des Klägers verbundene und zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevanten Tatsachen, die maßgeblichen Angaben des Klägers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und persönlichen Umstände zu berücksichtigen. Dies folgt aus Art. 10 Abs. 3, Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 72 f.). [...]

Für eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats über einen Antrag auf internationalen Schutz, der dem Antragsteller zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt wurde, hat der Europäische Gerichtshof aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabsatz 1 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Verpflichtung der zuständigen Behörde, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, abgeleitet, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einzuleiten, die den Antragsteller zuvor als Flüchtling anerkannt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 77 f.).

Diese Pflicht zum Informationsaustausch ist nach den Worten des Europäischen Gerichtshofs, auch in anderen Sprachfassungen, zwar auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bezogen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 78, "[…] the information in its possession that led to refugee status being granted.", sowie "[…] un échange d’informations avec l’autorité compétente de l’État membre ayant précédemment octroyé le statut de réfugié au même demandeur.", Unterstreichungen nur hier), soll jedoch im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung – nicht auf die Flüchtlingseigenschaft begrenzten – internationalen Schutzes die mit dem neuen Antrag befasste Behörde in die Lage versetzen, ihre Überprüfungen in voller Kenntnis der Sachlage vorzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 79, ("[…] under the international protection procedure.", "[…] dans le cadre de la procédure de protection internationale.", Unterstreichungen nur hier).

Die bei dieser Prüfung nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU zu berücksichtigenden und vom Europäischen Gerichtshof herausgehobenen Umstände sind neben den mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU) die den Antragsteller/Kläger selbst betreffenden Umstände, seine Angaben und von ihm vorgelegten Dokumente (Art. 4 Abs. 3 Buchst. b) der Richtlinie 2011/95/EU), seine individuelle und persönlichen Umstände (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) der Richtlinie 2011/95/EU), sowie seine Aktivitäten seit Verlassen des Herkunftsstaates (Art. 4 Abs. 3 Buchst. d) der Richtlinie 2011/95/EU). Hiernach stehen die Person des Klägers, sein Vorbringen und die von ihm vorgelegten Dokumente sowie die Tatsachen im Herkunftsland im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Zentrum der Prüfung.

Im Hinblick auf diese bei jeder Einzelfallprüfung individuell und aktuell zu berücksichtigenden Umstände im Zeitpunkt der entscheidungserheblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) konnte im Lichte des von dem Europäischen Gerichtshofs hervorgehobenen Zwecks, die Überprüfung auf eine volle Kenntnis der Sachlage zu stützen, im vorliegenden Verfahren von einer Anforderung weiterer Unterlagen von den griechischen Behörden abgesehen werden. Die aus November 2015 stammenden und mittlerweile neun Jahre alten Unterlagen, sofern sie noch vorhanden sein sollten, erscheinen im Lichte des vom Europäischen Gerichtshof aufgezeigten Zwecks des Informationsaustauschs objektiv ungeeignet, die entscheidungserhebliche Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich zu vervollständigen. Ihre Anforderung stellte vorliegend, auch im Lichte des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, eine bloße Förmelei dar und wäre mit dem Grundsatz der zügigen Verfahrensbearbeitung nicht zu vereinbaren. Denn nach dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes liegt es im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird. Dem folgend stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU sicher, dass das Prüfungsverfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird. Zeitlich nicht absehbare Verzögerungen durch einen in der Sache offensichtlich ungeeigneten Informationsaustausch wären damit nicht überein zu bringen. In diesem Licht sind die Maßgaben des Europäischen Gerichtshofs für die mit dem erneuten Antrag befasste Behörde zu sehen, einen Informationsaustausch mit der Behörde, die zuvor die Zuerkennung ausgesprochen hat, "unverzüglich", einzuleiten (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 – C 753/22 –, ECLI:EU:C:2024:524, curia.europa.eu, Rn. 78, ("[…] as soon as possible […]", "[…] dans les meilleurs délais […]").

Dieser Maßgabe der Unverzüglichkeit kann vorliegend offensichtlich keine Rechnung mehr getragen werden. Zudem brächte ein Informationsaustausch inhaltlich bei Berücksichtigung der von dem Kläger (vgl. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU) vorgetragenen Umstände offensichtlich nichts entscheidungserhebliches für die Sachlage im hier maßgeblichen Zeitpunkt zu Tage. Sie könnten nicht der sachgerechten Vervollständigung der Sachlagenkenntnisse dienen. [...]