Eingeschränkte Bindungswirkung der Schutzzuerkennung im anderen EU-Mitgliedstaat:
1. Es steht den Mitgliedstaaten frei, ob sie die Schutzzuerkennung in einem anderen EU-Mitgliedstaat, in den die asylsuchende Person wegen der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht zurückkehren kann, automatisch anerkennen oder ob sie eine neue Entscheidung über den Asylantrag erlassen möchten.
2. Eine neue Entscheidung über den Asylantrag setzt eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung voraus. Hierbei ist die Behörde verpflichtet, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einzuleiten, die zuvor eine Schutzzuerkennung ausgesprochen hat. Sie muss die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Schutzzuerkennung geführt haben, zu übermitteln.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
26 QY, einer syrischen Staatsangehörigen, wurde 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
27 Zu einem vom vorlegenden Gericht nicht angegebenen Zeitpunkt stellte sie in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz.
28 Nach einer rechtskräftigen Entscheidung eines deutschen Verwaltungsgerichts, die in dem Vorabentscheidungsersuchen ohne Datum angeführt wird, würde QY in Griechenland die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) drohen, so dass sie nicht dorthin zurückkehren könne.
29 Das Bundesamt lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 ab, gewährte ihr aber subsidiären Schutz. [...]
48 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, wenn sie von der durch die letztere Bestimmung eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen kann, weil der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, der ihm bereits einen solchen Schutz zuerkannt hat, der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wäre, verpflichtet ist, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen, weil ihm diese Eigenschaft bereits von dem anderen Mitgliedstaat zuerkannt worden ist, oder ob sie eine neue eigenständige Prüfung dieses Antrags in der Sache vornehmen darf. [...]
56 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist als Erstes festzustellen, dass das Unionsrecht im Bereich des internationalen Schutzes die Mitgliedstaaten nach derzeitigen Stand nicht ausdrücklich verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen.
57 Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV soll mit der von der Union entwickelten gemeinsamen Asylpolitik jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet werden. [...]
58 Insbesondere sieht Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV vor, dass das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem erlassen, das "einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige" umfasst. [...]
61 So soll zunächst mit der auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV erlassenen Richtlinie 2011/95, wie sich aus ihrem Art. 1 in Verbindung mit ihrem zwölften Erwägungsgrund ergibt, gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen [...].
63 Jedoch sind die Mitgliedstaaten weder nach diesen noch nach anderen Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen. [...]
65 [...] Art. 10 der Richtlinie 2013/32 legt die Anforderungen an die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz fest, und nach seinem Abs. 2 stellt die Asylbehörde zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 muss die Asylbehörde ihre Entscheidung nach angemessener Prüfung und unter Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Vorgaben treffen. Dagegen ist die Asylbehörde weder nach Art. 10 noch nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 [...] verpflichtet, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen. [...]
68 Aus den [...] dargelegten Gründen ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber beim gegenwärtigen Stand des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems das mit Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV verfolgte Ziel eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht vollständig verwirklicht hat. [...]
69 Somit steht es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts zwar frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen, sie können aber vorsehen, dass solche Entscheidungen, die ein anderer Mitgliedstaat nach günstigeren Bestimmungen im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 und Art. 5 der Richtlinie 2013/32 erlassen hat, automatisch anerkannt werden. Es steht jedoch fest, dass die Bundesrepublik Deutschland von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat.
70 Unter diesen Umständen ist als Zweites zu bestimmen, in welchem Umfang die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen hat, der von einem Antragsteller gestellt wurde, dem ein anderer Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat.
71 Wie [...] ausgeführt, erkennen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu, ohne in dieser Hinsicht über ein Ermessen zu verfügen [...].
72 Um festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 jeden Antrag auf internationalen Schutz individuell prüfen, wobei alle mit dem Herkunftsland des Antragstellers verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seine individuelle Lage und persönlichen Umstände zu berücksichtigen sind [...].
74 Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats muss daher, wenn es ihr [...] nicht möglich sein sollte, einen bei ihr gestellten Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären, eine individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vornehmen. [...]
76 Insoweit ist diese Behörde zwar nicht verpflichtet, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen, weil dieser zuvor durch eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats als Flüchtling anerkannt worden war, sie muss jedoch diese Entscheidung und die ihr zugrunde liegenden Anhaltspunkte in vollem Umfang berücksichtigen.
77 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem [...] beruht nämlich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, wonach die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen des Unionsrechts [...] stehen muss [...].
78 Des Weiteren ist angesichts des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit [...] und um so weit wie möglich sicherzustellen, dass die von den zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen darüber, ob ein und derselbe Drittstaatsangehörige oder Staatenlose internationalen Schutz benötigt, kohärent sind, festzustellen, dass die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats einleiten muss, die den Antragsteller zuvor als Flüchtling anerkannt hat. Hierbei muss sie die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln.
79 Dieser Informationsaustausch soll die Behörde des mit dem neuen Antrag befassten Mitgliedstaats in die Lage versetzen, die ihr im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes obliegenden Überprüfungen in voller Kenntnis der Sachlage vorzunehmen.
80 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass [...] die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats [...] im Rahmen eines neuen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes [...] eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung dieses Antrags vornehmen muss. Dabei muss sie allerdings die Entscheidung des anderen Mitgliedstaats, diesem Antragsteller internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen. [...]