Inländische Fluchtalternativen für Tschetschenen bei Zwangsrekrutierung und Grundwehrdienstpflicht
1. Jungen Männern, denen in Tschetschenien Zwangsrekrutierung droht, steht in anderen Teilen Russlands interner Schutz offen, wenn kein besonderes Verfolgungsinteresse ihnen gegenüber anzunehmen ist.
2. Grundwehrdienstpflichtige Tschetschenen müssen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Einziehung zum Wehrdienst rechnen, wenn sie sich außerhalb Tschetscheniens in anderen Teilen Russlands aufhalten. Jedenfalls droht Grundwehrdienstleistenden in Russland kein Einsatz im Krieg gegen die Ukraine.
3. Personen, denen in Tschetschenien ernsthafter Schaden im Sinne des subsidiären Schutzes gem. § 4 Abs. 1 AsylG droht, steht in zumutbarer Weise interner Schutz in anderen Regionen Russlands offen.
(Leitsätze der Redaktion. Anmerkung: anders hinsichtlich Zwangsrekrutierungen und internem Schutz: VG Würzburg, Urteil vom 4. März 2024 – W 7 K 23.30458, juris; VG Halle, Urteil vom 27.04.2023 - 5 A 299/21 HAL - asyl.net: M31630; VG Hamburg, Urteil vom 13.07.2023 - 17 A 3339/20 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 369 f.) - asyl.net: M31805)
[...]
39 Nach diesen rechtlichen Maßstäben droht den Klägern bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG.
40 5.2. Die Kläger sind im flüchtlingsrechtlichen Sinne nicht vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. [...]
43 Das Gericht konnte jedoch nicht feststellen, dass ... nicht von tschetschenischen, sondern von föderalen russischen Sicherheitsbehörden, namentlich dem FSB, verfolgt wurde.
44 Gegen eine solche Annahme spricht das Verhältnis zwischen den tschetschenischen und den föderalen Sicherheitsbehörden in Tschetschenien. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die folgenden Feststellungen auch für die Zeit vor der Ausreise der Kläger Geltung beanspruchen können. Zwar sind in Tschetschenien sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig [...]. Anti-Terror-Operationen werden jedoch in der Regel von Angehörigen der lokalen Polizei und tschetschenischen Spezialeinheiten durchgeführt […].
45 Wenn Asylsuchende aus Tschetschenien behaupten, in Tschetschenien von russischen Sicherheitsbehörden verfolgt worden zu sein, kann dies nach Einschätzung einer informierten Quelle mit der Erwartung zusammenhängen, dass die Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling größer sind, wenn behauptet wird, dass es sich bei den Verfolgern um föderale Behörden handelt. Ein anderer Grund könnte sein, dass der Asylsuchende befürchtet, dass die Angabe tschetschenischer Einheiten als Verfolger seiner in Tschetschenien verbliebenen Familie Probleme bereiten könnte, da sich Bundesbehörden im Gegensatz zu tschetschenischen Kräften nicht an der Familie des Verfolgten rächen würden [...].
46 Dieser Einschätzung schließt sich das erkennende Gericht für den vorliegenden Fall an. Die Unterstützung der sog. Terroristen in Tschetschenien durch ... war nach dessen eigenen Angaben nur von untergeordneter Bedeutung. Schon dieser Umstand spricht gegen die Annahme eines besonderen Interesses des föderalen Geheimdienstes FSB an ihm. Selbst wenn man davon ausgeht, dass russische Geheimdienstmitarbeiter an der Vernehmung von ... beteiligt waren, erscheint es unwahrscheinlich, dass sich der FSB nach seiner Freilassung erneut um ihn bemüht hat. Dagegen spricht auch der Vortrag der Kläger zu den Ereignissen nach der Inhaftierung ihres Sohnes bzw. Bruders. Die Kläger berufen sich auf eine Verfolgung in Form einer Sippenhaft, wie sie gerade für tschetschenische Sicherheitskräfte typisch ist. Gegen ein besonderes Verfolgungsinteresse des russischen Geheimdienstes an den Klägern spricht schließlich der Umstand, dass es den Klägern gelungen ist, mit Auslandspässen legal aus der Russischen Föderation auszureisen. [...] Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Reisepass der Klägerin zu 1. bereits vor den Ereignissen zum Jahreswechsel 2012/13 in Moskau ausgestellt worden war und gleichwohl nicht eingezogen worden ist. Auch dieser Umstand spricht gegen die Behauptung der Kläger, der russische Geheimdienst und nicht eine tschetschenische Sicherheitsbehörde habe mit ihrer Entführung gedroht.
47 5.2.2. Doch auch unter der vom Gericht getroffenen Annahme, dass die Drohungen der tschetschenischen Sicherheitsbehörden, sie würden die Kläger mitnehmen, bis sich ihr Sohn bzw. Bruder den Behörden stelle, im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU eine unmittelbare Bedrohung mit einer Verfolgung darstellt, fehlt es für die Anwendung der Beweiserleichterung an der Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund.
48 Das Gericht konnte nicht feststellen, dass die Drohungen gegen die Kläger wegen einer bei ihnen tatsächlich vorhandenen (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) oder ihnen zugeschriebenen (§ 3b Abs. 2 AsylG) politischen Überzeugung erfolgt sind. Die Kläger machen nicht geltend, dass sie in politischer Gegnerschaft zur tschetschenischen Regierung standen oder oppositionelle Aktivitäten entfaltet haben. Zwar genügt es für die Annahme einer ursächlichen Verbindung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, dass dem Ausländer die verfolgungsbegründenden Merkmale von den Verfolgungsakteuren lediglich zugeschrieben werden. Entscheidend ist die Kausalität im Sinne der erkennbaren Gerichtetheit der Verfolgung [...]. Nach dem Vortrag der Kläger erfolgten die Drohungen aber nicht deshalb, weil die tschetschenischen Sicherheitsbehörden sie für Gegner der tschetschenischen Regierung hielten, sondern weil sie erreichen wollten, dass sich ihr Sohn bzw. ihr Bruder stellt. Die Behörden wollten den sozialen und emotionalen Druck ausnutzen, der aufgrund der bestehenden engen familiären Bindungen durch eine tatsächliche oder angedrohte Mitnahme der Kläger auf ... entstehen würde. [...]
50 5.3. Die Verfolgungsfurcht der Kläger wird auch nicht durch Ereignisse begründet, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen haben (§ 28 Abs. 1a AsylG).
51 Den Klägern zu 2. und 3. droht bei einer Rückkehr nach Tschetschenien allerdings mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsrekrutierung in militärische Einheiten, die unter der Kontrolle des russischen Verteidigungsministeriums stehen und im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden. [...]
53 Die Kläger zu 2. und 3. erscheinen in mehrfacher Hinsicht überdurchschnittlich gefährdet, bei einer Rückkehr nach Tschetschenien von einer Zwangsrekrutierung betroffen zu werden. Aufgrund der Inhaftierung und Ausreise ihres älteren Bruders laufen sie Gefahr, von den tschetschenischen Machthabern als Regierungsgegner verdächtigt zu werden. Hinzu kommt, dass die Ausreise und vor allem der langjährige Aufenthalt im westlichen Ausland auch nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine von der tschetschenischen Regierung als Ausdruck mangelnder Loyalität gewertet würden. [...]
54 Die drohenden Verfolgungshandlungen würden auch an einen Verfolgungsgrund anknüpfen, nämlich an die unterstellte Gegnerschaft zur tschetschenischen Regierung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). [...]
55 5.4. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet für die Kläger jedoch deshalb aus, weil sie gemäß § 3e Abs. 1 AsylG auf die Rückkehr in einen außerhalb der Tschetschenischen Republik liegenden Ort innerhalb der Russischen Föderation als einen Ort des internen Schutzes verwiesen werden können. [...]
56 5.4.1. Den Kläger droht an einem Ort der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
57 Die Tatsache der Verfolgung in einem Landesteil ist zwar nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor neuerlicher Verfolgung auch am Ort des internen Schutzes begründet ist. Dies gilt jedoch nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung bedroht wird [...]. Solche Umstände bestehen hier.
58 Die Macht der tschetschenischen Sicherheitskräfte ist außerhalb der Tschetschenischen Republik formal und faktisch durch den Herrschaftsanspruch der föderalen Sicherheitsbehörden eingeschränkt, die sich zum Teil weigern, mit den tschetschenischen Behörden zusammenzuarbeiten. Ein beträchtlicher Teil der tschetschenischen Bevölkerung hat Tschetschenien verlassen und lebt legal in anderen Teilen Russlands. Die große tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands steht nicht unter der direkten Kontrolle ... Es wird jedoch berichtet, dass tschetschenische Behörden, die Zugang zu russlandweiten Informationssystemen haben, in Einzelfällen auch Personen verfolgen, die in andere Teile der Russischen Föderation geflohen sind. Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können ehemalige Bewohner ihrer Region in der gesamten Russischen Föderation auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten festnehmen und nach Tschetschenien überstellen. Wer von der tschetschenischen Polizei offiziell gesucht wird, zum Beispiel, weil ein Strafverfahren anhängig ist, kann überall in der Russischen Föderation gefunden werden. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte über eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. Es gibt auch Berichte über verschiedene Personengruppen, die gegen ihren Willen aus einem inländischen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Betroffen sind Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung. Besonders gefährdet sind Personen, die einen persönlichen Konflikt mit F. oder hohen tschetschenischen Funktionären haben, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder glaubhaft verdächtigt werden, Terroristen oder aktive Unterstützer des Terrorismus zu sein, und Personen, die wegen einer schweren Straftat angeklagt sind [...].
59 Die Rechtsprechung geht daher überwiegend davon aus, dass Personen aus Tschetschenien in anderen Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich verfolgungsfreien internen Schutz (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) haben können, solange sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist und solange ferner keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung haben und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen werden [...]. Das erkennende Gericht hat sich dieser Einschätzung angeschlossen [...] und hält daran fest. [...]
61 Den Klägern zu 2. und 3. drohen auch keine Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach dieser Vorschrift können Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten.
62 Es ist schon nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens überhaupt zum Militärdienst eingezogen würden. Jedenfalls müssten sie als Grundwehrdienstleistende nicht mit einem Einsatz im Krieg gegen die Ukraine rechnen. [...]
66 5.4.2. Die Kläger können auch sicher und legal in einen anderen Landesteil außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation reisen und werden dort aufgenommen. [...]
68 5.4.3. Von den Klägern kann auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich an einem anderen Ort in der Russischen Föderation niederlassen. [...]
75 6. Den Klägern ist auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen. [...]
79 6.2. Nach den oben getroffenen Feststellungen (siehe dazu unter 5.2.1.) waren die Kläger bei ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation unmittelbar von staatlichen Maßnahmen der tschetschenischen Sicherheitsbehörden in Form der sog. Sippenhaft bedroht, die sich als ernsthafter Schaden darstellen. Zugunsten der Kläger ist deshalb zu vermuten, dass sich entsprechende Handlungen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation wiederholen werden. [...]
81 6.3. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz scheidet für die Kläger aber deshalb aus, weil sie gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG auf die Rückkehr in einen außerhalb der Tschetschenischen Republik liegenden Ort innerhalb der Russischen Föderation als einen Ort des internen Schutzes verwiesen werden können. [...]
82 7. Der Kläger haben ferner keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. [...]
84 [...] Auch die humanitären Verhältnisse in der Russischen Föderation rechtfertigen für den Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht. Das ergibt sich aus den Annahmen des Gerichts zur Zumutbarkeit der Niederlassung in einem sicheren Landesteil auch unter Berücksichtigung der konkreten gesundheitlichen Situation der Klägerin zu 1. (siehe unter 5.4.3.).
85 7.2. Die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind vorliegend ebenfalls nicht erfüllt. [...]
88 Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
89 Eine solche Bescheinigung haben die Kläger im Berufungsverfahren nicht vorgelegt. Soweit die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, wegen einer psychischen Erkrankung weiterhin in Behandlung zu sein, kann davon ausgegangen werden, dass sie auch am Ort des internen Schutzes die notwendige medizinische Behandlung erlangen könnte (siehe unter 5.4.3.).
90 8. Die gegen die Kläger in den Bescheiden des Bundesamtes vom 28. Oktober 2016 und vom 22. September 2020 ausgesprochenen Abschiebungsandrohungen finden ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG.
91 [...] Die Abschiebung der Kläger würde zwar den Kontakt zu ihrem Sohn bzw. Bruder erschweren. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung ist aber nach § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nur dann ausgeschlossen, wenn familiäre Bindungen des Ausländers der Abschiebung entgegenstehen. Dies ist hier nicht der Fall.
92 Die durch Art. 2 Nr. 9 Buchst. b des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54) mit Wirkung vom 27. Februar 2024 eingeführte Vorschrift setzt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs um, nach der Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EU dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 – C-484/22 – Rn. 28). Diese Rechtsprechung lässt sich auf die Belange von verheirateten Erwachsenen übertragen, da Art. 5 Buchst. b Richtlinie 2008/115/EU familiäre Belange allgemein schützt.
93 Der unionsrechtliche Begriff der "familiären Bindungen" bezieht sich auf das in Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC verankerte Recht auf Privat- und Familienleben und ist in diesem Sinne auszulegen (OVG Schleswig, Urteil vom 22. Juni 2023 – 4 LB 6/22 – juris Rn. 97). Danach gilt Folgendes:
94 Den traditionellen Kern des Familienbegriffs in Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC bilden Ehegatten und Kinder. Entscheidend ist das tatsächlich bestehende Familienleben. [...] Familienbeziehungen im Sinne von Art. 8 EMRK bestehen grundsätzlich auch zu anderen nahen Verwandten, insbesondere zu Geschwistern sowie zwischen Großeltern und Enkelkindern. Sie haben aber in der Regel nicht die gleiche Bedeutung wie innerhalb der Kernfamilie. Beziehungen zwischen Erwachsenen genießen daher nur dann als Familienleben den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn über die emotionale Verbundenheit hinaus zusätzliche Elemente der Abhängigkeit vorliegen […].
97 8.3. Die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 28. Oktober 2016 ist auch nicht deswegen teilweise aufzuheben, weil nach dem Bescheid die Ausreisefrist von 30 Tagen zunächst unionsrechtswidrig [...] mit der Bekanntgabe des Bescheides in Lauf gesetzt worden ist. Die Kläger zu 1. und 2. sind durch diese anfängliche objektive Unionsrechtswidrigkeit des Bescheides mit und durch die Klageerhebung wegen des Eintritts der im Gesetz (§ 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG) und im Bescheid benannten außerprozessualen Bedingung nicht mehr beschwert […].