VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 13.07.2023 - 17 A 3339/20 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 369 f.) - asyl.net: M31805
https://www.asyl.net/rsdb/m31805
Leitsatz:

Zulässiger Folgeantrag wegen drohender Zwangsrekrutierung in Tschetschenien (Russische Föderation):

Für wehrdienstfähige Männer ergibt sich aus der andauernden Zwangsrekrutierung in Tschetschenien und dem drohenden Einsatz im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine eine zu ihren Gunsten veränderte Sachlage, sodass gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Cottbus, Urteil vom 31.08.2022 - 1 K 1228/19.A - asyl.net: M31076)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenen, Zwangsrekrutierung, Asylfolgeantrag, veränderte Sachlage, Ukraine-Krieg, Tschetschenien,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger eine Änderung der Sachlage zu seinen Gunsten hinreichend dargelegt bzw. diese ergibt sich im Hinblick auf die aktuelle Erkenntnislage bezüglich der Russischen Föderation. Diese geänderte Sachlage liegt in einer möglichen Zwangsrekrutierung durch das Kadyrow-Regime in Tschetschenien und den Einsatz im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine (VG Hamburg, Urt. v. 30.3.2023, 17 A 1139/20, n.v.; vgl. zu weiteren verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die ebenfalls eine geänderte Sachlage annehmen: VG Potsdam, Beschl. v. 1.3.2023, 6 L 300/22.A, juris für einen 25-jährigen Tschetschenen; noch weitergehend VG Schleswig, Urt. v. 14.12.2022, 16 A 799/19, n.v. für einen 47-jährigen russischen Mann unabhängig von der Einziehungspraxis in Tschetschenien).

Die derzeitige Erkenntnislage hinsichtlich von Zwangsrekrutierungen in Tschetschenien stellt sich folgendermaßen dar: Tschetschenische Gruppierungen kämpfen in der Ukraine seit Beginn des Kriegs im Februar 2022. Unabhängig von einer Einziehung zum Wehrdienst und einer Rekrutierung im Rahmen der derzeit offiziell beendeten Teilmobilmachung in sonstigen Teilen der Russischen Föderation wurden und werden in Tschetschenien Freiwilligenbataillone gebildet. Nach Aussage von Republikoberhaupt Kadyrow sind alle in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen, darunter auch die Sicherheitskräfte, Freiwillige. Tatsächlich finden in Tschetschenien Rekrutierungen von Kämpfern in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards statt. In vielen Fällen erfolgen Zwangsrekrutierungen, wobei Methoden wie Drohungen und Entführungen angewandt werden. Behörden in Tschetschenien betreiben eine aggressive Anwerbungskampagne, um Einheimische als "freiwillige" Kämpfer für die Ukraine zu gewinnen. Kadyrow drohte Kampfunwilligen mit der "Hölle" und ordnete die Streichung von Sozialleistungen für Familien von Kriegsdienstverweigerern an. Nach wie vor, also auch nach dem am 28.10.2022 verkündeten Ende der Teilmobilmachung, entsendet Tschetschenien Gruppen Freiwilliger als Kämpfer in den Ukraine-Krieg (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: Länderinformation Russische Föderation - Version 11 (3. Februar 2023) S. 37; EUAA: Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service (17. Februar 2023) S. 19 f.: Danish Immigration Service: Russia. An update on military service since July 2022 (Dezember 2022) S. 32 f.).

Aufgrund dieser bisherigen Erkenntnislage erscheint es unter Berücksichtigung der sich aus der gerichtlichen Anhörung ergebenden Umstände im Einzelfall des Klägers nicht nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass dem sich im wehrdienstfähigen Alter befindlichen Kläger aufgrund dieser geänderten Umstände in Tschetschenien im Fall der Rückkehr die Zwangsrekrutierung und der Einsatz im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine droht, was wiederum geeignet sein könnte, dem Kläger zur Zuerkennung internationalen Schutzes (§§ 3 ff., 4 AsylG) zu verhelfen. [...]