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VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 20.06.2024 - 22 L 1105/24.A - asyl.net: M32559
https://www.asyl.net/rsdb/m32559
Leitsatz:

Mangelnde Substanziierung allein rechtfertigt keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet

1. Ein Asylantrag kann nicht allein auf Grund mangelnder Substanziierung gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden.

2. Auch Widersprüche im Vorbringen zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen ändern dies nicht. Sie sind als eigenständiger Ablehnungsgrund insofern unerheblich.

3. Eine Ablehnung gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG auf Grund mangelnder Substanziierung setzt voraus, dass sich selbst bei wohlwollendster Betrachtung aus dem Vortrag kein individuelles Verfolgungsschicksal ableiten lässt.

(Leitsätze der Redaktion; ausdrücklich entgegen VG Hamburg, Beschluss vom 14. Mai 2024 – 5 AE 1954/24 – asyl.net: M32427)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Asylantrag, offensichtlich unbegründet, mangelnde Substantiierung, Widersprüche zu Herkunftslandinformationen,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet kann hier nicht auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, so dass die Begründung für seinen Asylantrag offensichtlich nicht überzeugend ist. Die Norm setzt Art. 32 Abs. 2 i. V. m. Art. 31 Abs. 8 lit. e) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (RL 2013/32/EU) um (vgl. BT-Drucksache 20/9463, S. 56) und hat dessen Wortlaut übernommen. Der noch in § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG a.F. genannte Vortragsmangel der mangelnden Substantiierung vermag dabei eine Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n. F. allein nicht zu tragen. Denn er ist weder vom Wortlaut der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU noch vom Wortlaut der nationalen Vorschrift des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n. F. umfasst. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Regelung in Art. 31 Abs. 8 lit. e) der Richtlinie 2013/32/EU im Vergleich zu der Vorgängerregelung des Art. 23 Abs. 4 lit. g) der Richtlinie 2005/85/EU, nach welcher neben inkohärenten, widersprüchlichen und unwahrscheinlichen Angaben auch unvollständige Angaben die Offensichtlichkeitsentscheidung tragen konnten, verschärft worden ist (VG Ansbach, Beschluss vom 21. Februar 2024 – AN 9 S 24.30262 –, juris, Rn. 20 ff.; VG Minden, Beschluss vom 30. Oktober 2023 – 2 L 930/23.A –, juris, Rn. 28). [...]

Ein in wesentlichen Punkten unsubstantiierter Vortrag kann aus diesen Gründen auch dann nicht als offensichtlich unwahrscheinlich angesehen werden, wenn ein Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen hinzukommt (so aber VG Hamburg, Beschluss vom 14. Mai 2024 – 5 AE 1954/24 –, juris, Rn. 35).

Diese Ansicht überzeugt nicht, weil sie über den Wortlaut der Norm hinausgeht. Vielmehr kann die Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch in diesem Fall nur auf einen von § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F. tatbestandlich ausdrücklich geregelten Vortragsmangel gestützt werden. Liegt ein Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen vor, kann die Ablehnung nur hierauf gestützt werden; ob daneben auch der Vortragsmangel einer fehlenden Substantiierung vorliegt, ist unerheblich. [...]

Die Anwendung von § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n. F. stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Stützt der Asylbewerber sein Vorbringen auf mehrere selbständige Verfolgungsgründe, so müssen sie sämtlich in einer der in Nr. 2 genannten Formen bemakelt sein, damit der Asylantrag insgesamt auf der Grundlage dieser Vorschrift als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden kann (so zutreffend Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 41. Edition (Stand: 1. April 2024), AsylG § 30, Rn. 23). [...]

Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet kann auch nicht auf eine andere Vorschrift gestützt werden. In Betracht käme hier allein die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. Ein Vorbringen kann nach zutreffender Auffassung dann als belanglos in diesem Sinne angesehen werden, wenn er in tatsächlicher Hinsicht in wesentlichen Punkten unsubstantiiert ist. Denn dann ist ein Fall gegeben, bei dem sich die Ablehnung geradezu aufdrängt (VG Berlin, Beschluss vom 23. Mai 2024 – 41 L 353/24 A –, juris, Rn. 23 ff. mit Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2019 – 2 BvR 1193/18 – juris, Rn. 18).

Der Substantiierungsmangel muss sich jedoch als derart gravierend darstellen, dass sich selbst bei wohlwollendster Betrachtung aus dem Vortrag ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht ableiten lässt. Dies ist hier nicht der Fall. [...]