LG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
LG Düsseldorf, Beschluss vom 24.06.2024 - 25 T 439/23 - asyl.net: M32546
https://www.asyl.net/rsdb/m32546
Leitsatz:

Fluchtgefahr bei Überstellungshaft:  

1. Die Anordnung einer Überstellungshaft kann nur angeordnet werden, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr vorliegt. Eine unerlaubte Einreise im Sinne des § 62 Abs. 3 Nr. 2 stellt keinen ausreichenden Anhaltspunkt für eine erhebliche Fluchtgefahr und die Anordnung einer Überstellungshaft im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO dar. Die Gründe für eine Überstellungshaft sind abschließend geregelt. Ein Rückgriff auf andere Haftgründe als die in § 62 Abs. 3a und 3b Nr. 1 bis 5 AufenthG genannten Haftgründe ist nicht zulässig. 

2. Die Annullierung eines Visums führt zur Nichtigkeit des Visums von Anfang an. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, unerlaubte Einreise, Schengen-Visum, Annullierung, Haftantrag, Haftaufhebungsantrag, Überstellungshaft, erhebliche Fluchtgefahr
Normen: FamFG § 62 Abs. 1, FamFG § 426 Abs. 2, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 - 5, FamFG § 14b Abs. 2 S. 2, AufenthG § 71 Abs. 3 Nr. 1e, AufenthG § 2 Abs. 14, § 14 Abs. 1 Nr. 2a, AufenthG § 62 Abs. 3a, AufenthG § 62 Abs. 3b Nr. 1 - 5, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 2 Bst. n, VO 810/2009 Art. 34 Abs. 1 S. 1. VO 810/2009 Art. 34 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO ist Überstellungshaft nur möglich, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. [...]

Die Mitgliedstaaten sind aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet, in einer zwingenden Vorschrift mit allgemeiner Geltung die objektiven Kriterien festzulegen, auf denen die Gründe beruhen, die zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Betroffener, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen wird […].

§ 2 Abs. 14 Sätze 1 und 2 AufenthG in der Fassung vom 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023 lauten: [...]

Soweit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] der die Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung betrifft, maßgeblich ist, gelten § 62 Abs. 3a für die widerlegliche Vermutung einer Fluchtgefahr im Sinne von Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und § 62 Abs. 3b Nummer 1 bis 5 als objektive Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr […].

Vorliegend hat die Antragstellerin keine der Merkmale des § 62 Abs. 3a oder 3b Nummern 1 bis 5 AufenthG oder des § 2 Abs. 14 Satz 2 AufenthG aufgezeigt.

Vielmehr hat sie auf eine unerlaubte Einreise gemäß § 62 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG abgestellt. Auch der Amtsrichter hat sich allein auf die unerlaubte Einreise gestützt.

Der Betroffene hat bei Einreise einen gültigen ägyptischen Reisepass und ein Schengen-Visum vorgelegt. Mit dem Schengen-Visum existierte eine wirksame Erlaubnis zur Einreise, von der bis zu ihrer Aufhebung Tatbestandswirkung ausgeht [...]. Eine unerlaubte Einreise nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG läge nicht vor, selbst wenn der Betroffene falsche Angaben bei der Beantragung des Visums gemacht hätte.

Zutreffend ist, dass die Antragstellerin das dem Betroffenen seitens des spanischen Konsulats in Kairo erteilte Visum annulliert hat.

Gemäß Art. 34 Abs. 1 Satz 1 Visakodex [...] wird ein Visum annulliert, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für seine Erteilung zum Ausstellungszeitpunkt nicht erfüllt waren, insbesondere wenn es ernsthafte Gründe zu der Annahme gibt, dass das Visum durch arglistige Täuschung erlangt wurde.

Gemäß Art. 34 Abs. 2 Satz 1 Visakodex wird ein Visum aufgehoben, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung nicht mehr erfüllt sind.

Das Visum wird grundsätzlich von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der es erteilt hat, annulliert oder aufgehoben, kann aber auch von den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats annulliert oder aufgehoben werden [...].

Einem Visumsinhaber, dessen Visum annulliert oder aufgehoben wurde, steht ein Rechtsmittel zu, das gegen den Mitgliedstaat, der über die Annullierung oder Aufhebung befunden hat, in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen ist. [...]

Eine Einreise trotz eines bestehenden Visums ist nur dann unerlaubt, wenn dieses durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen wurde und deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen oder annulliert wird (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 a AufenthG).

Dabei muss die Rücknahme (§ 48 Abs. 1 VwVfG) bzw. Annullierung (Art. 34 Abs. 1 Visakodex) gerade aus den genannten Gründen erfolgen und ex tunc auf den Zeitpunkt der Einreise zurückwirken.

Die Annullierung eines Visums führt zur Nichtigkeit des Visums von Anfang an [...].

Allerdings ist das Visum annulliert worden und war damit von Anfang an ungültig. Die Voraussetzungen des § 14 Abs.1 Nr. 2a AufenthG wären somit erfüllt.

Im Rahmen des Art. 28 Dublin-III-VO ist ein Rückgriff auf andere Haftgründe jedoch nicht zulässig. Die in § 62 Abs. 3a und 3b Nummern 1 bis 5 sowie in § 2 Abs. 14 AufenthG bestimmten Anhaltspunkte sind abschließend [...]. Die Dublin-III-VO steht einer Norm entgegen, die Kriterien für das Vorliegen von Fluchtgefahr nur beispielhaft benennt und dem Richter die Möglichkeit eröffnet, noch andere Kriterien zu entwickeln. [...]