VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 18.06.2024 - 3 L 712/24 - asyl.net: M32508
https://www.asyl.net/rsdb/m32508
Leitsatz:

Vormundschaft für minderjährigen Bruder steht Abschiebungsandrohung entgegen

Die Vormundschaft für eine minderjährige Person steht als familiäre Bindung gem. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegen. Die umfangreichen Rechte und Pflichten des Vormunds erfordern den persönlichen Kontakt zum Mündel und können jedenfalls von Bulgarien aus nicht hinreichend ausgeübt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Vormundschaft, Geschwister, internationaler Schutz in EU-Staat, familiäre Bindung, Abschiebungsandrohung, Kindeswohl,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Eine Abschiebungsandrohung ergeht gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG, wenn u.a. der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Mit Beschluss des Amtsgerichts Saarbrückens - Familiengericht im Verfahren 36 F 237/23 wurde bzgl. des im Jahr 2009 geborenen Bruders des Antragstellers das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und der Antragsteller zu dessen Vormund bestellt [...]. Aus den familienrechtlichen Wertungen des BGB ergibt sich aufgrund der Vormundschaft des Antragstellers eine familiäre Bindung zu seinem minderjährigen Bruder, welchem in Deutschland internationaler Schutz gewährt wurde [...], die der Abschiebung entgegensteht.

Den Vormund treffen umfangreiche Rechte und Pflichten. Gemäß § 1789 Abs. 1 S. 1 BGB hat er die Pflicht und das Recht, für die Person und das Vermögen des Mündels zu sorgen und diesen nach § 1789 Abs. 2 S. 1 BGB zu vertreten. Eine pflichtgemäße Wahrnehmung dieser Aufgaben wäre dem Antragsteller nach einer Rückkehr nach Bulgarien nicht oder nur stark eingeschränkt möglich. Im Hinblick auf eilbedürftige Entscheidungen, z.B. in medizinischen Angelegenheiten, wäre zwar eine telefonische Kontaktaufnahme denkbar, was aber nicht in allen Fällen ausreichend erscheint. Gerade in solchen Situationen kann der persönliche Eindruck, welchen sich der Antragsteller von Bulgarien aus kurzfristig allerdings nicht verschaffen könnte, für die Entscheidung relevant sein. Mit Blick auf möglicherweise erforderliche Antragstellungen, Zustellungen oder Ähnliches erscheint es auch zumindest für gewisse Zeit nach der Ankunft in Bulgarien nicht gesichert, dass dem Antragsteller eine ladungsfähige Anschrift zur Verfügung stehen würde. Zwar bestehen keine konkreten Hinweise darauf, dass anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien im Allgemeinen obdachlos oder von Obdachlosigkeit in besonderem Maße bedroht wären [...], allerdings müssen sich anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien grundsätzlich selbst um eine Unterkunft bemühen. Sie haben weiterhin keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme in einer Flüchtlingsunterkunft. Auch Anspruch auf eine Sozialwohnung haben anerkannt Schutzberechtigte ebenso wenig wie bulgarische Staatsangehörige [...], sodass unklar ist, wann genau der Antragsteller eine Unterkunft finden würde und damit eine ladungsfähige Anschrift sichergestellt wäre.

Korrespondierend zur Pflicht der Wahrnehmung der Personen- und Vermögenssorge ist der Vormund gemäß § 1790 S. 1 BGB zum persönlichen Kontakt mit dem Mündel verpflichtet und berechtigt, wobei er nach § 1790 S. 2 BGB den Mündel in der Regel einmal im Monat in dessen üblicher Umgebung aufsuchen soll. Eine Abweichung in der Häufigkeit der Kontakte hat sich allein an den Bedürfnissen des Mündels zu orientieren [...]. Der persönliche Kontakt ist sowohl aus rechtlichen als auch aus pädagogischen Gründen erforderlich, da der Vormund Lebensstellung, Gesundheitszustand, Interessen, Begabungen und Wünsche des Mündels sowie dessen vermögensrechtlichen Angelegenheiten kennen und sich einen Eindruck hiervon verschaffen muss [...]. Diesen Anforderungen kann nur ein persönlicher Kontakt gerecht werden, der nicht durch eine fernmündliche Kommunikation ersetzt werden kann [...]. Ein persönlicher Kontakt des Antragstellers zu seinem Bruder in der vom Gesetz geforderten Form wäre dem Antragsteller von Bulgarien aus nicht möglich. Hinzu kommt, dass der Antragsteller seinen minderjährigen Bruder als Mündel in seinen Haushalt aufgenommen hat [...], weshalb sie über die bereits genannten Pflichten hinaus einander Beistand und Rücksicht schuldig sind (§ 1791 S. 2 BGB). Diese Rücksichtnahme- und Beistandspflicht trägt dem Ziel des Gesetzgebers Rechnung, eine Annäherung der Vormund-Mündel-Beziehung zum Eltern-Kind-Verhältnis erreichen [...].

Mit einer Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien würde auch kein Grund eintreten, der zwingend zu dessen Entlassung als Vormund und Bestellung eines neuen Vormundes führen würde (§§ 1804, 1805 BGB). Vor diesem Hintergrund und den bereits geschilderten Schwierigkeiten der pflichtgemäßen Aufgabenwahrnehmung gegenüber dem Mündel, droht dem Antragsteller eine Schadensersatzpflicht gem. § 1794 Abs. 1 S.1 BGB.

Bei einer Gesamtwürdigung dieser Umstände ist daher nach der derzeitigen Aktenlage davon auszugehen, dass zwischen dem Antragsteller und seinem minderjährigen Bruder aufgrund der Vormundschaft ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, weshalb von einer familiären Bindung i.S.d. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG auszugehen ist, die der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich weitere Verwandte des minderjährigen Bruders in Deutschland aufhalten, da diese gerade nicht die hervorgehobene Rolle eines Vormundes wahrnehmen. [...]