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VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Urteil vom 20.06.2024 - 6 K 520/23 Ge - asyl.net: M32499
https://www.asyl.net/rsdb/m32499
Leitsatz:

Anspruch auf BAföG bei Zweitstudium nach Flucht: 

1. Die kriegsbedingte Flucht stellt einen unabweisbaren Grund für den Abbruch eines Studiums dar. Unabweisbar ist ein Grund, wenn die Fortführung des Studiums oder der Ausbildung objektiv und subjektiv unmöglich oder "schlechterdings unerträglich" ist. Besteht keine Wahlmöglichkeit zwischen Fortführung und Abbruch des Studiums / der Ausbildung, liegt ein unabweisbarer Grund vor.

2. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen eines unabweisbaren Grundes ist der Zeitpunkt des Studienabbruchs.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.03.2020 - 15 K 2516/19 - asyl.net: M29449

Schlagwörter: Ausbildungsförderung, Studium, Studienfachwechsel, Fachrichtungswechsel, Beurteilungszeitpunkt, Zweitstudium, Flucht, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 2, BAFöG § 7, BAFöG § 8
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen nach dem BAföG in gesetzlicher Höhe für sein zum Wintersemester 2022/2023 aufgenommenes Bachelor-Studium [...].

Anspruchsgrundlage für die Förderung nach dem Wechsel oder dem Abbruch einer früheren Ausbildung ist § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG. Danach wird Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung geleistet, wenn der Auszubildende aus wichtigem Grund (Nr. 1) oder unabweisbarem Grund (Nr. 2) die Ausbildung abgebrochen oder die Fachrichtung gewechselt hat. [...]

Bei dem Studium der des Klägers an der … Universität …, Syrien handelt es sich um eine erste Ausbildung im Sinne von § 7 Abs. 1 BAföG (1.), die der Kläger abgebrochen hat (2.). Der Ausbildungsabbruch beruhte auf einen unabweisbaren Grund (3.). Auch die weiteren Fördervoraussetzungen liegen vor (4.).

1. Das zum Wintersemester 2022/2023 an der Universität … aufgenommene Bachelor-Studium der ... (Hauptfach) und … (Nebenfach) stellt eine weitere Ausbildung im Sinne des § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG dar, da es sich bei dem im Jahr 2011 in Syrien aufgenommenen Studium der … um eine förderungsrechtlich beachtliche erste bzw. andere Ausbildung handelt.

Eine im Ausland aufgenommene, aber nicht berufsqualifizierend abgeschlossene Ausbildung ist förderungsrechtlich als erste Ausbildung anzusehen, wenn die ausländische Ausbildungsstätte den inländischen Ausbildungsstätten nach Zugangsvoraussetzungen, Art und Inhalt der Ausbildung sowie dem vermittelten Ausbildungsabschluss vergleichbar ist (BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 1997 - 5 C 28.97 - BVerwGE 106, 5-13, juris, Rn. 18). [...]

2. Diese förderungsrechtlich beachtliche erste Ausbildung hat der Kläger im Sinne des § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG abgebrochen. [...]

Ein Abbruch der Ausbildung liegt nach der Legaldefinition des § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG vor, wenn der Auszubildende den Besuch von Ausbildungsstätten einer Ausbildungsstättenart einschließlich der im Zusammenhang hiermit geforderten Praktika endgültig aufgibt. Erfasst werden nur die Fälle der (zunächst) ersatzlosen Aufgabe der Ausbildung sowie des Wechsels zu einer Ausbildungsstätte einer anderen Ausbildungsstättenart, für den nicht die Voraussetzungen des § 15b Abs. 4 Hs. 2 BAföG vorliegen [...].

Spätestens mit der Flucht aus Syrien - … 2015 - wurde der Entschluss, das Studium nicht nach einer Unterbrechung später wiederaufzunehmen, objektiv nach außen erkennbar. [...]

3. Der Kläger kann sich auf einen unabweisbaren Grund im Sinne des § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG für den Ausbildungsabbruch berufen.

Der wichtige Grund im Zeitpunkt des Abbruchs für diesen muss an der abgebrochenen Ausbildung orientiert sein. Das gilt in gleicher Weise für die Beurteilung, ob der Auszubildende sich auf einen unabweisbaren Grund berufen kann [...].

Unabweisbar im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 Nr. 2 BAföG ist ein Grund, wenn Umstände eintreten, die die Fortführung der bisherigen Ausbildung objektiv und subjektiv unmöglich machen oder dies zumindest "schlechterdings unerträglich" ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens eines wichtigen oder unabweisbaren Grundes ist der Zeitpunkt des Abbruchs [...]. Hat der Auszubildende keine Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung und ihrem Abbruch oder dem Überwechseln in eine andere Fachrichtung, ist die Unabweisbarkeit zu bejahen.

So liegt es hier:

Aufgrund des Bürgerkrieges und der Flucht aus Syrien hatte der Kläger gerade keine Wahl zwischen dem Abbruch der Ausbildung und deren Fortsetzung [...]. Vorliegend sind die Gründe, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 AsylG führen, ausreichend, um das Vorliegen eines unabweisbaren Grundes für den Abbruch des Studiums zu bejahen [...].

Liegt ein unabweisbarer Grund für einen Abbruch des Studiums vor, bedarf es keiner näheren Aufklärung der Frage. ob der Kläger ein nur unterbrochenes - nicht abgebrochenes - Studium in Deutschland hätte fortsetzen können und ob es für einen dann vorliegenden Fachrichtungswechsel einen unabweisbaren Grund gegeben hätte. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Zeitpunkt des Vorliegens eines wichtigen oder unabweisbaren Grundes bei einem Fachrichtungswechsel (Beschluss vom 23. Oktober 2020 - 5 B 18.20 -) findet gerade keine Anwendung. [...]

4. Dass der Bewilligung von Ausbildungsförderung weitere Aspekte entgegenstehen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger seinen ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und erfüllt als Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AsylG die persönlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 BAföG. [...]