Vulnerablen Personen droht in Italien unmenschliche oder erniedrigende Behandlung:
1. Für die Bildung der Verfolgungsprognose ist für die konkret erwartbare Rückkehrsituation auf den gesamten Familienverband abzustellen. Führt die Erfüllung der grundlegenden familiären Solidarpflichten dazu, dass das eigene Existenzminimum unterschritten wird, handelt es sich nicht um eine "freiwillige Selbstgefährdung", die eine "außergewöhnliche Notlage" im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt.
2. Für vulnerable Personen ist von der ernsthaften Gefahr einer Verletzung von Art. 3EMRK/Art. 4 GRCh bereits dann auszugehen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine (in diesem Fall kindgerechte) Unterkunft gefunden werden kann.
3. Eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK kann nur dann hinreichend sicher ausgeschlossen werden, wenn eine einzelfallbezogene und verbindliche Zusicherung der italienischen Behörden für eine unmittelbare (kindgerechte) Unterbringung und Versorgung vorliegt.
4. Das BAMF kann seine Verantwortlichkeit für die Prüfung der ausreichenden Unterbringung nicht auf die Ausländerbehörde und die Bundespolizei im Rahmen des Rücknahmeverfahrens verlagern. Die Verfügbarkeit einer Unterkunft ist eine zielstaatsbezogene Tatsache, die das Bundesamt zu klären hat.
(Leitsätze der Redaktion; Siehe dazu auch: BVerwG: Urteil vom 24.04.2024 – 1 C 8.23 – asyl.net: M32701)
[...]
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihr die Abschiebung nach Italien angedroht wurde. [...]
Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 2020, Gz. ...-232, ist - im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) - rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Beklagte hat den Asylantrag der Klägerin zu Unrecht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. [...]
Die Unzulässigkeitsentscheidung ist hier indessen mit höherrangigem Unionsrecht nicht vereinbar. [...]
Lebt der Ausländer - wie vorliegend die Klägerin - auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland bzw. in dem Staat, in den die Rückkehr erfolgen soll, in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen [...]. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland - bzw. dem Staat, in den die Rückkehr erfolgen soll - fortzusetzen [...].
Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie (auch) als Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverband. [...] Dies gilt namentlich für die familiäre Lebensgemeinschaft mit besonders schutzbedürftigen minderjährigen Kindern; denn Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und haben für einen angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen, zumindest aber die Existenz des Kindes auch finanziell sicherzustellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind [...]
Diese aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und Unterstützungs"obliegenheiten", die in der konkret erwartbaren Rückkehrsituation ein Familienmitglied treffen und deren Erfüllung sich notwendig - positiv wie negativ - auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an "familientaugliche" Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität), prägen zumindest normativ die Rückkehrsituation. [...] Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch "Teilen" mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine "freiwillige Selbstgefährdung", die eine "außergewöhnliche Notlage" im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG/Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die - für die Rückkehrprognose naheliegende - Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, ist dann auch nicht eine bloß mittelbare Gefährdungssteigerung aus den "Versorgungslasten" für nahe Familienangehörige; sie bewirkt auch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt [...].
Der grund- und konventionsrechtliche Schutz eines bestehenden Kernfamilienverbandes aber gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem Staat, in den ein Mitglied der Kernfamilie abgeschoben werden soll, um den Herkunfts- oder einen EU-Mitgliedstaat handelt [...].
d) Für vulnerable Personen ist nach der Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass ihnen für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin und ihre Kinder mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in Italien in eine Situation extremer materieller Not geraten werden und ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht werden befriedigen können. [...]
e) In Ansehung dieser Sachlage käme eine Überstellung der Klägerin (gemeinsam mit ihren Kindern) nach Italien nur in Betracht, wenn seitens der italienischen Behörden sichergestellt wird, dass die Familie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Italien eine (kindgerechte) Unterkunft erhält und ihre Versorgung gewährleistet ist. Allein unter diesen Voraussetzungen kann eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK hinreichend sicher ausgeschlossen werden. Zur Sicherstellung dieser Voraussetzungen bedarf es einer einzelfallbezogenen und verbindlichen Zusicherung der italienischen Behörden. [...]
bb) Die Beklagte kann auch nicht darauf verweisen, dass im Rahmen einer konkret bevorstehenden Abschiebung deren Modalitäten mit den italienischen Behörden abgestimmt werden.
Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 6. Januar 2020 an das Verwaltungsgericht Gera (Az. 4 K 963/18 Ge) werde bei der Rückübernahme von vulnerablen Fällen der tatsächlichen Rückführung durch die italienischen Behörden erst zugestimmt, wenn angemessene Unterkunft und Versorgung sichergestellt seien. Wenn dies nicht gewährleistet werden könne, erfolge die formelle Aufforderung an die Bundesrepublik Deutschland, den Rückführungstermin zu verschieben. Dieses bilaterale Rückübernahmeverfahren werde zentral durch das Bundespolizeipräsidium angewandt [...].
Die beschriebene Verfahrensweise findet bereits keinerlei Niederschlag in anderen, insbesondere aktuelleren Erkenntnisquellen. Vielmehr wird in anderen Erkenntnisquellen ausgeführt, dass die Betroffenen bei ihrer Ankunft am Flughafen auf sich allein gestellt sind [...].
Gegen diese Verfahrensweise spricht ferner, dass es bereits bei der behördlichen Entscheidungsfindung geboten ist, das Vorhandensein einer Unterkunftsmöglichkeit in die Prognose für Abschiebungsschutzgründe im Sinne des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG, mithin also bei der Prüfung einer möglichen Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK, einzustellen, was sich auch aus dem Untersuchungsgrundsatz der § 24 Abs. 2 und § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG ergibt. Das bedeutet, dass bereits durch das Bundesamt sämtliche für die Beurteilung des Vorliegens einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung relevanten Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung zu ermitteln und zu würdigen sind [...]. Danach kann die Berücksichtigung einer Zusage über die Sicherstellung einer Unterkunftsmöglichkeit nur dann gegen einen Abschiebungsschutz sprechen, wenn diese auch konkret abgegeben wurde. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob hierfür die Behörden des Mitgliedstaats zuständig sind [...]. Die Verfügbarkeit einer Unterkunftsmöglichkeit ist eine zielstaatsbezogene Tatsache, die das Bundesamt zu klären hat [...]
Hingegen wird das durch die Beklagte beschriebene Verfahren der Bundespolizei erst dann in Gang gesetzt, wenn der Unzulässigkeitsbescheid des Bundesamts nebst Abschiebungsandrohung bestandskräftig ist. Das Verwaltungsverfahren ist damit abgeschlossen und die Ausreisepflicht wird vollstreckt. Für die Vollstreckung ist nicht das Bundesamt, sondern sind die Ausländerbehörden und die Bundespolizei zuständig. Das Bundesamt hat jedoch bereits im Rahmen des Verwaltungsverfahrens abschließend zu prüfen, ob im Zielstaat eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. Denn ist dies der Fall, so darf - wie oben ausgeführt - bereits keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 AsylG getroffen werden [...].
Mit dem Verweis auf das Überstellungsverfahren durch die Bundespolizei verlagert das Bundesamt seine Verantwortlichkeit, ob eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, sowohl auf eine andere Behörde, auf deren Handeln es keinen Einfluss hat, als auch auf einen späteren Zeitpunkt, zu dem aufgrund der Bestandskraft des Bescheides praktisch kaum noch Rechtsschutzmöglichkeiten zu erlangen sind. Bei der von der Beklagten beschriebenen Verfahrensweise besteht für die Betroffenen keine effektive Möglichkeit, nachzuprüfen, ob die Bundespolizei vor der Überstellung eine solche Zusicherung eingeholt hat und wie diese qualitativ beschaffen ist. [...]