VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 05.06.2024 - 19 C 24.66 - asyl.net: M32492
https://www.asyl.net/rsdb/m32492
Leitsatz:

Kirchenasyl begründet keine "fiktive Duldung" und unterbricht geduldete Voraufenthaltszeit:

1. Das Gesetz kennt keine rechtlich erheblichen Zustand einer faktischen/fiktiven Duldung. Es gibt nach der Systematik des Aufenthaltsgesetzes keinen ungeregelten Aufenthalt; eine ausreisepflichtige Person wird entweder abgeschoben oder erhält eine förmliche Duldung.

2. Kann eine Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden oder bleibt der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss, so ist die gesetzliche, förmliche Reaktion hierauf die Erteilung einer Duldung, um eine mögliche Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu vermeiden.

3. Befindet sich eine Person im offenen Kirchenasyl, ist eine Duldung nur dann zu erteilen, wenn die Ausländerbehörde zu dem Ergebnis kommt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung erfolgen kann.

4. Die Aufenthaltszeit während des Kirchenasyls ist hinsichtlich der geduldeten Voraufenthaltszeit des § 104c AufenthG nicht zu berücksichtigen, sondern unterbricht den maßgeblichen Vorduldungszeitraum.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.05.2018 - 11 S 1810/16 - asyl.net: M26331, wonach im Rahmen des § 25b AufenthG eine Person als geduldet gilt, wenn sie aufgrund eines materiell-rechtlichen Duldungsgrunds nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen unbedingten Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat.)

Siehe auch:

  • Bundesministerium des Innern: Erlass/Behördliche Mitteilung vom 29.05.2024 – M3-20010/28#11 – asyl.net: M32469, wonach im Rahmen des § 104c Abs. 1 AufenthG ausreichend ist, wenn einer der in § 60a Abs. 2 AufenthG genannten Duldungsgründe vorliegt und es in diesem Fall nicht darauf ankommt, dass die Person tatsächlich eine förmliche Duldungsbescheinigung gemäß § 60a Absatz 4 AufenthG innehat. Das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen genügt. Im Übrigen sind kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten, unschädlich.
Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, Voraufenthaltszeit, ununterbrochener Aufenthalt, Kirchenasyl, Duldung, Duldungsfiktion, Abschiebung, Bleiberecht, Altfallregelung,
Normen: AufenthG § 104c Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 4, AufenthG § 25a, AufenthG § 25b
Auszüge:

[...]

6 Es liegt jedoch eine relevante Unterbrechung des 5-Jahres-Zeitraums zwischen dem 20. Juli 2017 (Erlöschen der Aufenthaltsgestattung im Dublin-Verfahren) und Februar 2018 (Aufenthaltsgestattung während der Fortsetzung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren) vor.

7 Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Staat durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert ist, die Überstellung im sog. Dublin-Verfahren durchzuführen. Unterlässt die Ausländerbehörde die Vollziehung der Abschiebung, weil sie Kirchenasyl grundsätzlich als christlich-humanitäre Tradition toleriert, so liegt darin weder eine Ermessensduldung noch eine stillschweigende bzw. faktische Duldung. [...].

8 Das Gesetz kennt keinen rechtlich erheblichen Zustand der "faktischen Duldung", aus dem weitergehende Ansprüche (etwa wie hier auf Erteilung eines tatbestandlich u.a. an die Duldung anknüpfenden Aufenthaltstitels wie der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG) abgeleitet werden könnten. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor (BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 19). Deshalb ist dann, wenn die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, als gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis eine Duldung zu erteilen, um eine mögliche Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu vermeiden (BVerfG, B.v. 6.3.2003 – 2 BvR 397/02 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 C 23.31, 19 C 23.32, Rn. 6). Die Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung besteht unabhängig davon, ob der Ausländer einen entsprechenden Antrag gestellt, die Entstehung des Abschiebungshindernisses [...] oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung [...] zu vertreten hat oder ob er freiwillig ausreisen könnte [...]. Maßgeblich ist allein, ob der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (objektiv) tatsächliche (oder rechtliche) Hindernisse entgegenstehen, die es der Ausländerbehörde unmöglich machen, ihrer gesetzlichen Abschiebeverpflichtung nachzukommen [...].

9 Das ist im Fall des offenen Kirchenasyls nicht der Fall, zumal – worauf die Landesanwaltschaft zutreffend hinweist – die ZAB die Abschiebung des Klägers aktiv betrieben und ein EU-Laissez-passer für die Überstellung beantragt hatte, der bereits am 30. Juni 2017 ausgestellt worden ist. Deshalb kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers nicht betreiben würde. Insbesondere kann ein "Nichtbetreiben der Abschiebung" nicht deshalb angenommen werden, weil der Antragsgegner – wie bereits ausgeführt – das offene Kirchenasyl respektiert. Nur wenn – wie hier nicht – die Ausländerbehörde bei der Prüfung, ob die Abschiebung durchgeführt werden kann, zu dem Ergebnis kommt, dass diese nicht ohne Verzögerung erfolgen kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung – beispielsweise wegen ungeklärter Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers – ungewiss ist, ist eine Duldung zu erteilen. [...]