VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.05.2018 - 11 S 1810/16 - asyl.net: M26331
https://www.asyl.net/rsdb/M26331
Leitsatz:

1. Wird ein humanitäres Aufenthaltsrecht beantragt und ist davon auszugehen, dass sich der Antrag auf sämtliche diesem Aufenthaltszweck zuzurechnenden Erteilungsvorschriften stützt, so ist eine Klage nicht wegen Fehlens einer nicht nachholbaren Klagevoraussetzung unzulässig, soweit sie zuletzt auf eine Erteilungsvorschrift (hier: § 25b AufenthG) gestützt wird, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens in Kraft getreten ist (Fortführung der Senatsrechtsprechung: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.12.2015 - 11 S 1998/15 -, asyl.net M23488).

2. Geduldeter Ausländer im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist jedenfalls, wer eine gültige Duldung besitzt oder - ohne im Besitz einer solchen zu sein - aufgrund eines materiell-rechtlichen Duldungsgrunds nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen unbedingten Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat. Ob dies auch für eine rein verfahrensbezogene Duldung gilt, bleibt offen.

3. Vom Anwendungsbereich des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Frage zu unterscheiden, welche Zeiträume im Rahmen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG anrechnungsfähig sind.

4. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG setzt nicht voraus, dass der Zeitraum des Mindestaufenthalts allein oder auch nur überwiegend im Status der Duldung zurückgelegt wurde. Für die Annahme, dass § 25b AufenthG früheren Inhabern eines Aufenthaltstitels nach dessen unterbliebener Verlängerung keine "zweite Chance" eröffne, findet sich im Gesetz kein Anhaltspunkt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Duldung, Duldungsfiktion, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, nachhaltige Integration, Anrechnung von Aufenthaltszeiten,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage setzt zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig einen vor Klageerhebung an die Behörde zu stellenden Antrag voraus, der, weil es sich um eine Klage-, nicht um eine bloße Sachurteilsvoraussetzung handelt, nicht im Prozess nachgeholt werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 30.08.1973 - 2 C 10.73 -, Buch-holz 232 § 181 BBG Nr. 6, vom 24.02.1982 - 6 C 8.77 -, juris, vom 16.01.1985 - 5 C 36.84 -, juris, Rn. 9 ff., und vom 31.08.1995 - 5 C 11.94 -, juris, Rn. 14 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.04.1999 - 6 S 420/97 -, juris, Rn. 3 f.). Eine Ausnahme von diesem grundsätzlichen Antragserfordernis besteht allenfalls dann, wenn das Begehren lediglich in Randbereichen erweitert wird und mithin die Behörde bereits mit den wesentlichen vorgreiflichen Fragen befasst war (vgl. zu einer derartigen Konstellation BVerwG, Urteil vom 04.08.1993 - 11 C 15.92 -, NVwZ 1995, 76).

Wird ein humanitäres Aufenthaltsrecht beantragt, ist in aller Regel davon auszugehen, dass sich der Antrag auf sämtliche diesem Aufenthaltszweck zuzurechnenden Erteilungsvorschriften stützt, soweit der zugrunde gelegte Lebenssachverhalt ein einheitlicher ist. Insoweit gilt nichts anderes als für die Bestimmung des Streitgegenstands einer Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der ebenfalls durch die Aufenthaltszwecke und den zu Grunde gelegten Lebenssachverhalt bestimmt und begrenzt wird, aus denen der Anspruch hergeleitet wird, nicht aber aus der Verortung eines Anspruchs im Gesetz (vgl. BVerwG, Urteile vom 04.09.2007 - 1 C 43.06 -, juris, Rn. 12 und 42, und vom 27.01.2009 - 1 C 40.07 - juris, Rn. 8, jeweils zu § 104a AufenthG; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 01.09.2014 - 11 S 1245/14 -, juris, Rn. 14 ff.). Eine Klage ist in diesen Fällen nicht wegen Fehlens einer nicht nachholbaren Klagevoraussetzung unzulässig, soweit sie zuletzt auf eine Erteilungsvorschrift gestützt wird, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens in Kraft getreten ist. Ergibt sich aus diesem Umstand, dass die Behörde sich zu dieser Vorschrift noch nicht verhalten konnte, hat das Verwaltungsgericht auf die fehlende Entscheidungsreife im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung durch eine geeignete Verfahrensführung zu reagieren, etwa durch eingehende Erörterung im Termin oder durch Vertagung (vgl. zu alledem VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.12.2015 - 11 S 1998/15 -, juris, Rn. 3 f.). [...]

Ob es sich bei dem von § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Status als "Geduldeter" lediglich um eine Mindestvoraussetzung handelt, ob also über "bloß geduldete" Personen hinaus auch (aktuelle) Inhaber von Aufenthaltstiteln grundsätzlich nach dieser Vorschrift anspruchsberechtigt sein können (so etwa Kluth, in: BeckOK AuslR/AufenthG, § 25b Rn. 6, für Inhaber von Aufenthaltstiteln, deren Rechtsfolgen "weniger weitreichend sind" als ein nach § 25b AufenthG erteilter Aufenthaltstitel; Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 25b Rn. 5), kann offenbleiben (ablehnend BayVGH, Beschluss vom 17.05.2017 - 19 CS 17.37 -, juris, Rn. 11; Zühlcke, HTK-AuslR / § 25b AufenthG / zu Abs. 1 / Nr. 3.1 (Stand: 11.10.2017); offenlassend OVG LSA, Beschluss vom 17.10.2016 - 2 M 73/16 -, juris, Rn. 6). Dagegen spricht nicht nur der Wortlaut in Satz 1 mit dem Wort "geduldeten". Die vorgenannte Auffassung stützt sich vielmehr im Wesentlichen auch auf einen Rückschluss aus der - dort jeweils ebenfalls vertretenen - Anrechenbarkeit von Aufenthaltszeiten im Rahmen von § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, die durch Titel legalisiert waren. Dieser Rückschluss aber verkennt, dass § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG Regelvoraussetzungen für eine nachhaltige Integration umschreibt und in Nr. 1 dafür die Aufzählung "geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis" enthält, während Satz 1 den grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis definiert und die genannte Aufzählung gerade nicht enthält. [...]

Ob darüber hinaus eine bestimmte "Qualität" der Duldung zu fordern ist, muss hier gleichfalls nicht entschieden werden. Zwar spricht manches dafür, dass eine rein verfahrensbezogene Duldung, die einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet nur zur Durchführung des Verfahrens nach § 25b AufenthG sichert, nicht zu einem geduldeten Aufenthalt i. S. d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG führt (in diesem Sinne OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2018 - OVG 11 S 98.17 -, juris, Rn. 8; a. A. OVG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016 - 3 Bf 153/13 -, juris, Rn. 60). § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt nach seinem Wortlaut nämlich voraus, dass der Ausländer den Aufenthaltserlaubnisantrag aus dem Duldungsstatus stellt, d. h. die - zumindest faktische - Duldung muss der Antragstellung typischerweise zeitlich vorausgehen oder aber jedenfalls unabhängig von dem Antrag erteilt worden sein (OVG NRW, Beschlüsse vom 19.10.2017 - 18 B 1197/17 -, juris, Rn. 2, und vom 17.08.2016 - 18 B 696/16 -, juris). [...]

Deshalb kann im Ergebnis auch dahinstehen, ob - bei fehlender Duldung - durchweg materielle Duldungsgründe i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor-liegen müssen, um einen Betroffenen als "geduldet" im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen (BayVGH, Beschluss vom 17.05.2017 - 19 CS 17.37 -, juris, Rn. 11 ff.; Zühlcke, HTK-AuslR / § 25b AufenthG / zu Abs. 1 / Nr. 3.1 (Stand: 11.10.2017)). Der Wortlaut der Vorschrift enthält eine derartige Einschränkung nicht, insbesondere auch keinen Verweis auf § 60a Abs. 2 AufenthG. Bei systematischer Betrachtungsweise setzt § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nicht - anders als etwa § 25 Abs. 5 AufenthG - voraus, dass mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG) oder die Abschiebung bereits für einen gewissen Zeitraum ausgesetzt ist (§ 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Dies übersieht die vorgenannte Auffassung, wenn sie zum anspruchsberechtigten Personenkreis - unter Hinweis auf die gesetzgeberische Intention - ausschließlich Ausländer zählen will, die "sonst weiterhin zu dulden wären" (so aber ausdrücklich BayVGH, Beschluss vom 17.05.2017 - 19 CS 17.37 -, juris, Rn. 11 ff.; ähnlich - freilich zur systematisch insoweit nicht völlig deckungsgleichen - Vorschrift des § 104a Abs. 1 AufenthG VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.09.2008 - 11 S 2088/08 -, juris, Rn. 6). Dass ein aktuell geduldeter Antragsteller - auch zukünftig - gerade deshalb weiter im Bundesgebiet verbleiben würde, weil er auf absehbare Zeit ohnehin geduldet werden müsste, setzt § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG jedenfalls nicht voraus. [...]

Der Wortlaut des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG lässt keine Einschränkung dahingehend erkennen, dass der Aufenthalt allein oder auch nur überwiegend im Status der Duldung zurückgelegt worden sein müsste. Die Varianten "geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis" stehen - im Unterschied zu § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wo diese Aufzählung gerade fehlt, - ohne jede Gewichtung nebeneinander. Eine Auslegung, die voraussetzte, dass die Mindestaufenthaltsdauer stets allein im Status der Duldung zurückgelegt worden ist, widerspricht damit dem Wortlaut der Vorschrift, der jeder Auslegung eine äußerste Grenze setzt. Welche Bedeutung den Varianten "gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis" bei einer solchen Auslegung noch zukommen könnte, ist nicht erkennbar. Weiter spricht die Verwendung des Wortes "oder" in der Aufzählung dafür, dass der Tatbestand auch dann erfüllt sein kann, wenn nur einzelne der genannten Varianten vorliegen. Darüber hinaus findet auch die Einschränkung, dass der Duldungszeitraum "überwiegen" müsse, im Wortlaut keine Stütze.

Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen ebenso wenig für eine einschränkende Auslegung im Sinne der Beklagten. Die Regelung bezweckt ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 1, 23), nachhaltige Integrationsleistungen, die auch ohne rechtmäßigen Aufenthalt von einem Geduldeten erbracht wurden, durch Erteilung eines gesicherten Aufenthaltsstatus zu honorieren. Mit Blick darauf ist die oben bereits hervorgehobene Differenzierung zwischen § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG und § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Wenn die Beklagte nämlich argumentiert, dem Gesetzgeber sei es darum gegangen, Integrationsleistungen zu honorieren, die trotz eines ungesicherten Aufenthaltsstatus erbracht worden sind, so kommt dies bereits in der Einschränkung des Anwendungsbereichs der Norm auf "geduldete" Ausländer zum Ausdruck. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG beschreibt demgegenüber eine notwendige Bedingung der nachhaltigen Integration, nämlich das Zurücklegen eines längeren Aufenthalts im Bundesgebiet. Vor diesem Hintergrund dient die Anrechnung von Zeiten einer Aufenthaltsgestattung oder einer Aufenthaltserlaubnis in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ersichtlich dazu, bei Personen mit gegenwärtig ungesichertem Aufenthalt auch Zeiten anrechnen zu können, in denen ihnen vorübergehend ein Aufenthaltsrecht zugestanden hat; eine Beschränkung auf "Härtefälle" ist weder dem Wortlaut der Vorschrift noch den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmen (vgl. aber insoweit abweichend ("ausschließlich" zur Vermeidung von Härtefällen) BayVGH, Beschluss vom 17.05.2017 - 19 CS 17.37 -, juris, Rn. 11, m.w.N. aus der Rechtsprechung zu § 104a AufenthG). [...]