Drohende "Wiederverschließung" nach Entbindung kann für somalische Frau Flüchtlingseigenschaft begründen:
1. Die Entscheidung, ob nach der Geburt eines Kindes in Somalia eine Reinfibulation (Wiederverschließung der Vagina) erfolgt, obliegt in der Regel der betroffenen Frau. Zwar gibt es üblicherweise keinen gesellschaftlichen Druck, nach einer Geburt eine Reinfibulation durchführen zu lassen, gleichwohl ist diese Praxis den Erkenntnismitteln zufolge durchaus verbreitet.
2. Es kann auch vorkommen, dass die Reinfibulation gegen den Willen der betroffenen Frau durchgeführt wird, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Frauen durch ihr Umfeld zu einer Reinfibulation gedrängt werden.
3. Es liegen keine belastbaren Zahlen über die Häufigkeit von Reinfibulationen vor. Wenn an einer Frau bereits einmal ohne ihr Einverständnis eine Reinfibulation durchgeführt wurde, gilt die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) einer erneut drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung. Denn es bestehen angesichts der fehlenden belastbaren Zahlen keine stichhaltigen Anhaltspunkte, die gegen eine erneute Reinfibulation sprechen.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Frankfurt a.M., Urteil vom 21.02.2022 - 9 K 919/20.F.A - asyl.net: M30569; VG Kassel, Urteil vom 02.10.2019 - 4 K 653/17.KS.A - asyl.net: M28106)
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Ausgehend von der zugunsten der Klägerin als Vorverfolgten eingreifenden Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie aufgrund der durch ärztliches Attest der Frauenarztpraxis Dr. med. ..., Dr. med. ... vom ... 2022 bei der Klägerin festgestellten Genitalverstümmelung Grad III nach WHO steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiterhin von der oben dargestellten Verfolgung bedroht ist.
Dies auch insbesondere deshalb, da die Klägerin, wie sie durch Vorlage des Mutterpasses (Bl. 146 - 151 Bd. 1 d.A.) belegt hat, aktuell wieder schwanger ist und bei einer Rückkehr nach Somalia und einer dort durchgeführten Geburt wieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nach Überzeugung des Gerichts mit einer Reinfibulation rechnen müsste.
Die Klägerin hat im Heimatland die dort am meist verbreitete (sogenannte Pharaonische) Beschneidung (gudniinka fircoonige) erlitten, welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht [...] und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym "FGM" verstanden wird [...].
Hinsichtlich FGM herrscht zwar kein Zwang, allerdings besteht eine Art Gruppendruck [...]. Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, ist der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden [...]. So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen [...]. Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird [...]. Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet [...]. Kulturell gilt die Klitoris als "schmutzig", eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat [...]. Dahingegen werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder unsomalisch bezeichnet [...], als abnormal und schamlos [...]. Die Klägerin hat eine solche Infibulation bereits erlitten und zudem wurde bei ihr nach der Totgeburt des ersten Kindes eine Reinfibultation bereits durchgeführt, wie sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar schilderte.
Die - auch im vorliegenden Sachverhalt einschlägige - Frage der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs [...] oder aber z.B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten [...].
Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen [...]. Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt […], kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich eine Reinfibulation zu unterziehen […]. Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht [...]. Es kann auch vorkommen, dass Eltern oder Verwandte eine bestehende Infibulation als zu gering erachten und ein Mädchen deswegen zu einem zweiten Eingriff geschickt wird [...].
Stellt nämlich der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben - bis hin zur sofortigen Scheidung. Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulatjon von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z.B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren [...]. Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue [...]. Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist [...]. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben [...]. Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet Dies obliegt i. d. R. der Entscheidung der betroffenen Frau [...]. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt [...], und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation [...]. Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation [...]. Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neuvernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten eher unüblich [...]. Die Verbreitung variiert offenbar auch geografisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95% der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation [...]. Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt [...]. Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau - wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen - auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko eine Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt [...]. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre [...].
Angesichts der obigen Ausführungen ergibt sich zwar, dass offenbar eine Reinfibulation nicht zwangsweise durchgeführt wird gegen den Willen der Frau. Allerdings besteht bei der Klägerin die Besonderheit, dass sie bereits in der Vergangenheit - wie sie glaubhaft im Rahmen der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht schilderte - im Zustand nach einem Kreislauszusammenbruch im Geburtsvorgang nach der Geburt vernäht wurde, wobei diese Entscheidung die Schwestern der Klägerin getroffen hätten. Es sei in Somalia nicht üblich, dass ein Ehemann bei der Geburt des Kindes im Krankenhaus anwesend ist.
Ob ihr jetziger Ehemann im Falle der Rückkehr nach Somalia eine erneute Reinfibulation von der Klägerin verlangen würde, konnte sie nicht sicher mitteilen, da sie, da sich die Frage noch nicht gestellt habe, nicht darüber gesprochen hätten.
Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die - schwangere - Klägerin ja bereits in einem Zustand physischer Ohnmacht einer Reinfibultation erlitten hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass der jetzige Ehemann, der Klägerin im Falle einer erneuten Ohnmacht der Klägerin im Rahmen der Geburt gefragt werden würde.
Die Klägerin hat im Übrigen hierzu auch glaubhaft angegeben, dass ihre ältere Schwester, die ebenfalls bereits Kinder hat, jedes Mal erneut wieder verschlossen wurde. [...]
Nach Rechtsprechung des VG Frankfurt am Main (Urteil vom 21. Februar 2022, Az.: 9 K 919/20.F.A, Bl. 178-192 Bd. 1 d.A.) liegen im Übrigen gerade keine belastbaren Zahlen über die Häufigkeit einer erlittenen Reinfibulation vor. Umgekehrt folgt hieraus aber auch, dass es keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse dazu gibt, dass sich eine zwangsweise Genitalverstümmelung bei einer Rückkehr nicht wiederholen wird. Dies insbesondere, da die Klägerin noch im gebärfähigen Alter ist und - insbesondere aufgrund der aktuellen Schwangerschaft im Falle der Rückkehr akut die Frage auftritt - ob ein Öffnen und Wiederverschließen der Vagina erfolgen wird. [...]