VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 22.02.2024 - M 10 K 23.50597 - asyl.net: M32448
https://www.asyl.net/rsdb/m32448
Leitsatz:

Systemische Mängel in Kroatien wegen drohender Kettenabschiebung:

1. Aufgrund regelhafter Verstöße gegen das Recht auf Zugang zum Asylverfahren gemäß Art. 6 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU], gegen das Refoulement-Verbot sowie das Verbot der Kollektivausweisung ist von systemischen Mängeln im Asylsystem Kroatiens auszugehen. Aufgrund dieser systemischen Mängel besteht auch die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

2. Die kroatischen Behörden erlassen in zehntausenden Fällen sogenannte "7-Tage-Papiere", die bei einem Asylgesuch feststellen, dass der Aufenthalt in Kroatien illegal ist und die Abschiebung in die Transitländer Bosnien-Herzegowina oder Serbien anordnen. Dabei handelt es sich um Rückkehrentscheidungen gemäß der Rückführungsrichtlinie, die als Fälle mittelbarer Zurückweisung gegen die Verfahrensgarantien von Art. 6 und Art. 9 Asylverfahrensrichtlinie verstoßen, wonach Personen während der Prüfung ihres Asylverfahrens insbesondere das Recht haben, im Mitgliedstaat zu verbleiben.

3. Es ist davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung nach Bosnien-Herzegowina aus einem sogenannten "7-Tage-Papier" auch gegenüber Personen vollstreckt wird, die aus Deutschland im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Kroatien überstellt werden, so dass für diese das ernsthafte Risiko einer Kettenabschiebung besteht.

4. Die kollektiven Ausweisungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien gehen oftmals mit brutaler Gewaltanwendung einher. Den Erkenntnismitteln zufolge kommt es etwa zur Fesselung von Aufgegriffenen an Bäumen und anschließender Abgabe von Schüssen in ihre Richtung, dem Einreiben von frisch zugefügten Wunden mit Essig, dem Einsatz von Elektroschocks und harten Gegenständen wie Gewehrkolben oder Holzlatten sowie erzwungenen Flussüberquerungen mit verschlossenen Händen. Schutzsuchende sollen von kroatischen Polizisten für um die 24 Stunden in überfüllte Haftzellen gebracht worden sein, ohne, dass diese  trotz ausdrücklicher Bitte etwas zu trinken oder ausreichend zu essen bekamen.

4. In Kroatien bestehen keine effektiven Rechtsschutzmechanismen für Asyl­suchende, die durch die kroatische Polizei eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung erfahren haben.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 04.12.2023 - 10 LB 91/23 - asyl.net: M32037; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2023 - A 4 S 2666/22 - asyl.net: M31553; siehe auch: VG Braunschweig, Urteil vom 08.05.2023 - 2 A 269/22 - asyl.net: M31561)

Schlagwörter: Kroatien, Dublinverfahren, systemische Mängel, Zurückweisung, Refoulement, Non-Refoulement, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Haft, effektiver Rechtsschutz,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, RL 2013/32/EU Art. 6 Abs. 1, GFK Art. 33 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

16 [...] Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG und die hierauf gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassene Abschiebungsanordnung sind rechtswidrig, da im kroatischen Asylsystem in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel vorliegen, die sich auch in überstellungsrelevanter Weise auf den Kläger konkret auswirken. Unabhängig von der Prüfung systemischer Mängel begründen die vom Kläger vorgetragenen Umstände aber auch selbstständig tragend die konkrete Gefährdung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung nach Kroatien. [...]

20 2. Gemessen an diesen rechtlichen Maßgaben ist vorliegend in Bezug auf Kroatien aufgrund regelhaft vorkommender Rechtsverstöße gegen das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren (Art. 6 RL 2013/32/EU), das Refoulement-Verbot sowie das Verbot der Kollektivausweisung das mitgliedstaatliche Vertrauen in rechtserheblicher Weise erschüttert und daher von Schwachstellen bzw. Mängeln auszugehen, die "systemisch" sind (a). Diese sind auch in einer die Überstellung hindernden Weise im Sinn von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beachtlich, da sie sich in überstellungsrelevanter Weise auf den Kläger auswirken bzw. mit der konkreten Gefährdung seines Rechts aus Art. 4 GRCh einhergehen (b). [...]

22 aa) Die Existenz sogenannter Pushback-Praktiken bzw. Kettenabschiebungen in bzw. ausgehend von Kroatien ist ein Problem, welches bereits seit einigen Jahren besteht und in der Rechts- und Gerichtspraxis kontrovers diskutiert wird. Kroatische Behörden leugnen die Existenz sogenannter Pushbacks in öffentlichen Erklärungen entweder per se oder rechtfertigen diese, wenn sich derartige Erklärungen als nicht haltbar erweisen, als "Umleitungs-" oder "Abfangoperationen" [...]. Die der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zeigen dabei, dass es dabei oftmals – entgegen anderweitiger verbreiteter Darstellung – nicht nur um Zurückschiebungsmaßnahmen an der Grenzlinie zu Bosnien-Herzegowina oder Serbien geht, sondern dass auch Geflüchtete betroffen waren, die tief im Landesinneren, teils sogar kurz vor der Grenze zu Slowenien aufgegriffen wurden [...].

23 In Abgrenzung zu Pushback-Praktiken als solchen kommt sogenannten Kettenabschiebungen von Kroatien in die angrenzenden Drittstaaten (Bosnien-Herzegowina und Serbien) noch eine eigenständige Qualität zu. Hierbei handelt es sich um Abschiebungen von Ausländern in die genannten Drittstaaten durch Kroatien, nachdem diese vorher ihrerseits zunächst nach Kroatien von anderen EU-Staaten (konkret vor allem von Italien und Österreich zunächst über Slowenien, hauptsächlich aber direkt aus Slowenien) rücküberstellt wurden. So wird etwa für das Jahr 2021 davon berichtet, dass 9.114 Personen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina gelangt seien, wovon ein signifikanter Anteil Kettenabschiebungen gewesen sei [...]. In dieses tatsächliche Bild fügt sich dabei der Umstand ein, dass die kroatische Polizei nach Ankunft der Betroffenen in Kroatien in zahlreichen Fällen deren Asylgesuche ignoriert hat und sie dennoch über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina gebracht hat [...].

24 Der rechtliche Hintergrund derartiger Kettenabschiebungen liegt im Völkerrecht und erfolgte aufgrund bilateraler Rückübernahmeabkommen (bilateral readmission agreements) der jeweiligen Staaten. [...]

25 Das Rückübernahmeabkommen zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina [...] kam erstmals in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 zur Anwendung [...].

26 Die der Kammer vorliegenden Erkenntnisse zur Vollzugspraxis [...] des Abkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina deuten darauf hin, dass die praktische Bedeutung dieses Abkommens in der jüngeren Zeit stark gestiegen ist. Aus einer Pressemitteilung des Border Violence Monitoring Network (BVMN) vom 31. März 2023 mit dem Titel "Croatia carries out mass deportations of people on the move to Bosnia and Herzegovina" geht hervor, dass eine neue und besorgniserregende Praxis der kroatischen Polizei dahingehend festzustellen sei, Geflüchtete in ganz Kroatien zusammentreiben und teilweise in kellerähnlichen Verliesen ohne Zugang zu Wasser und Essen zu inhaftieren, wo ihnen Ausweisungsbescheide nach Bosnien-Herzegowina ausgehändigt würden. Dagegen gebe es keine Möglichkeit, Rechtsbehelfe zu ergreifen oder Kontakt zu einem Rechtsbeistand aufzunehmen. [...]

31 Die Kammer geht nach der Erkenntnismittellage davon aus, dass die beschriebenen Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien ihren rechtlichen Hintergrund in der Einordnung beider Staaten als "sicher" haben (gemeint sowohl im Hinblick auf die Einordnung als sichere [europäische] Drittstaaten als auch im Hinblick auf Art. 5 RL 2008/115/EG). Die Kammer interpretiert insbesondere die vom Border Violence Monitoring Network geschilderten "Massenausweisungen" (mass expulsions) nach Bosnien-Herzegowina dahingehend, dass es sich um den Vollzug entweder von ablehnenden Asylentscheidungen gemäß Art. 46 des Kroatischen Gesetzes über den vorübergehenden und internationalen Schutz oder um den Vollzug von Rückkehrentscheidungen gemäß den Vorschriften des kroatischen Ausländergesetzes handeln muss. [...]

32 Die Kammer geht insofern davon aus, dass stattfindende Rückführungen nach Bosnien-Herzegowina und Serbien die allgemeine rechtspolitische Bestrebung Kroatiens widerspiegeln, auf der sogenannten "Balkan-Route" stattfindende irreguläre Migration auf sein Territorium mit allen (und damit auch rechtswidrigen) Mitteln einzudämmen und bestrebt ist, seine europarechtliche Verantwortung nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (insbesondere der RL 2013/32/EU und RL 2013/33/EU) auf die angrenzenden Drittstaaten Bosnien-Herzegowina und Serbien so weit wie möglich faktisch zu "externalisieren". [...]

35 Ungeachtet des formalen Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen eines sicheren europäischen Drittstaats in Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU entnimmt die Kammer den Erkenntnismitteln, dass sich die allgemeine abschiebungsrelevante Lage für Drittstaatsangehörige in Bosnien-Herzegowina als prekär darstellt und durchgreifende Bedenken dahingehend bestehen, dass diese dort ihre elementaren menschlichen Bedürfnisse im Sinn der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union [...] befriedigen können. So geht bereits aus einem anhängigen Individualbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der Vorwurf hervor, dass Kroatien nicht nur mit der Abschiebung als solche gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, sondern auch, dass die Beschwerdeführer dort "grässlichen Lebensbedingungen" ("dire living conditions") und einem dysfunktionalen Asylsystem ausgesetzt gewesen seien [...].

36 Nach den der Kammer zugrundeliegenden Erkenntnismitteln gehen die beschriebenen kollektiven Ausweisungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien oftmals mit brutalen Gewalthandlungen gegenüber Geflüchteten bzw. deren Eigentum einher [...] Ein häufig anzutreffender Vorwurf gegenüber kroatischen Polizeibeamten ist die Zerstörung von Mobiltelefonen, etwa um Beweismittel bezüglich begangenen strafrechtlichen Unrechts zu beseitigen, aber etwa auch das Verbrennen der Kleidung von Betroffenen, um diese sodann vollständig nackt über mehrere Kilometer zur Grenze zu treiben [...]. Nach den in das Verfahren eingeführten Berichten von AIDA, des CPT sowie der eingeholten Auskünfte von Amnesty International und des ECCHR samt den dort angegebenen weiteren Fundstellen lassen sich dabei bestimmte gleichförmige Verhaltensmuster der kroatischen Polizei erkennen, die hinsichtlich ihrer Intensität nach Einschätzung des CPT teilweise die Einordnung als Folter nahelegen (vgl. etwa: Fesselung von Aufgegriffenen an Bäumen und gleichzeitiger Abgabe von Schüssen in ihre Richtung, Einreiben von frisch zugefügten Wunden mit Essig, Einsatz von Elektroschocks und harten Gegenständen wie Gewehrkolben oder Holzlatten, erzwungene Flussüberquerungen mit verschlossenen Händen). Die Kammer weiß zudem aus zahlreichen anhängigen weiteren Dublin-Verfahren zum Mitgliedstaat Kroatien vom wiederkehrenden Vorwurf Betroffener, nach dem Aufgriff durch kroatische Polizisten zunächst für um die 24 Stunden in überfüllte Haftzellen gebracht worden zu sein, ohne in dieser Zeit trotz ausdrücklicher Bitte etwas zu trinken oder ausreichend zu essen bekommen. Für die Kammer hat sich anhand der geschilderten zahlreichen Fälle ein Gesamtbild dergestalt ergeben, dass kroatische Polizisten offenbar bestrebt waren und sind, durch den Entzug elementarer menschlicher Grundbedürfnisse wie das Vorenthalten von Wasser für einen Zeitraum für bis zu 24 Stunden bestimmte (Rechts-)Handlungen von Betroffenen abzupressen. Rechtsförmige bzw. rechtsstaatliche Möglichkeiten, sich in Kroatien gegen derartige Behandlungen durch die Polizei (nachträglich) in effektiver Weise zur Wehr zu setzen, bestehen nach den von der Kammer eingeholten Auskünften des ECCHR bzw. Amnesty International Deutschland, die sich die Kammer insoweit zu eigen macht, nicht. [...]

39 bb) Angesichts der oben dargestellten allgemeinen abschiebungs- bzw. überstellungsrelevanten Lage ist das mitgliedstaatliche gegenseitige Vertrauen in mehrfacher und rechtserheblicher Weise erschüttert. [...]

40 Die Kammer hält dabei zunächst die in der Erkenntnismittellage dargestellte Praxis, die kroatische Polizei habe nach Kroatien rücküberstellten Personen in zahlreichen Fällen trotz mehrfach geäußerter Asylgesuche den Zugang zum Verfahren verweigert, für europarechtlich eindeutig unzulässig. Die Vorgehensweise der kroatischen Polizei, auf die Asylgesuche in Kroatien angetroffenen oder dorthin rücküberstellten Personen entweder mit Drohungen oder Beleidigungen zu reagieren bzw. diese generell zu ignorieren, um auf vereinfachten Weg eine Rückkehrentscheidung im Sinn der RL 2008/115/EG erlassen zu können, hält die Kammer sowohl nach kroatischem Recht [...] als auch mit Blick auf die Verpflichtungen der kroatischen Polizei nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2, Unterabs. 3 RL und Abs. 2 Satz 1 2013/32/EU für rechtswidrig. [...] Die Kammer geht davon aus, dass diese Vorgehensweise – wie auch im vorliegenden Fall des Klägers – darauf abzielt, eine formale Registrierung als Asylsuchender in Kroatien zu verhindern (vgl. zu dieser Pflicht Kroatiens Art. 6 Abs. 2 Satz 1 RL 2013/32/EU) und damit Asylsuchenden die Verfahrensgarantie des Rechts zum Verbleib im Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Asylantrag (vgl. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU) abzuschneiden bzw. die Inanspruchnahme dieses Rechts in faktischer Hinsicht unmöglich zu machen. Diese Praxis korrespondiert mit der weiteren Vorgehensweise der kroatischen Polizei, durch Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG den illegalen Aufenthalt der betroffenen Person in Kroatien festzustellen und die Abschiebung in einen Durchgangs- bzw. Transitstaat, der kein EU-Staat ist, anzuordnen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat insofern auch entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 RL 2008/115/EG es in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU nicht zulassen, dass eine Rückkehrentscheidung gegenüber einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, nachdem dieser einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, aber bevor über diesen erstinstanzlich entschieden wurde (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2023 – C-257/22 – juris Rn. 44). Die Kammer ist daher der Auffassung, dass nicht nur die Obstruktion des Zugangs zum Asylverfahren durch die kroatische Polizei, sondern auch der Erlass sogenannter 7-Tage-Papiere in zehntausenden Fällen gemäß den oben dargestellten Normen des Ausländergesetzes gegen die dargestellten rechtlichen Maßgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2013/32/EU bzw. zum Verhältnis von Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU und Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG verstoßen. Die Kammer sieht sich in dieser Annahme auch anhand der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestärkt, wonach ein Asylsuchender, der in einem EU-Staat einen Asylantrag stellt, auch einen Anspruch darauf hat, dass dieser innerhalb der EU geprüft wird (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 20).

41 Ausgehend von den obigen Feststellungen zur allgemeinen abschiebungs- bzw. überstellungsrelevanten Lage verstößt Kroatien über verfahrensrechtliche europarechtliche Vorschriften des Zugangs zu einem Asylverfahren hinaus in zahlreichen Fällen gegen das völkerrechtliche Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR, Art. 3 Abs. 1 UN-Antifolterabkommen, Art. 4 GRCh) sowie gegen das Verbot der Kollektivausweisung (vgl. Art. 19 Abs. 2 GRCh, Art. 4 ZP 4 EMRK). Insoweit wird bereits aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. November 2021 ersichtlich, dass der Gerichtshof den konkreten Verstoß Kroatiens gegen das Verbot der Kollektivausweisung gerade auch vor dem Hintergrund der oben dargestellten allgemeinen Lage für Asylsuchende in Kroatien gewürdigt und eingeordnet hat [...]. In vergleichbaren Fällen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt geurteilt, dass der Vollzug bilateraler Rückübernahmeabkommen bzw. generell die Zurückweisung von Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen ohne weitere Sachbehandlung von geäußerten Asylgesuchen die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht aus ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit aus Art. 3 EMRK entlässt. Die Zurückweisung oder umgehende Rückführung nach einem solchem Rückübernahmeabkommen, ohne ein geäußertes Asylgesuch zu beachten bzw. ohne Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren, verstößt gegen das aus Art. 3 EMRK abgeleitete Refoulement-Verbot und bei einem gruppenweisen Vorgehen auch gegen das Verbot der Kollektivausweisung [...]. Insbesondere aus den oben zitierten Entscheidungen, welche die Staaten Ungarn, Polen und Litauen betrafen, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt geurteilt, dass ohne eingehende rechtliche Prüfung bzw. Vergewisserung durch die Behörden des abschiebenden Staates Asylsuchende nicht in die an die EU angrenzenden Staaten (dort Weißrussland und Serbien) zurückgewiesen werden dürfen, wenn ihnen dort die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht. [...]

42 Des Weiteren liegen im Hinblick auf die oben beschriebenen und sanktionslos gebliebenen Gewalthandlungen kroatischer Polizeibeamter, die bei den oben beispielhaft aufgezählten Fällen hinsichtlich ihrer besonderen Intensität die Einordnung als Folter nahelegen, in mehrfacher Hinsicht durchgreifende Anhaltspunkte für Verstöße gegen das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe [...] vor. Die aufgezählten Handlungen erfüllen ohne Weiteres die in Art. 1 Abs. 1 CAT genannten tatbestandlichen Voraussetzungen und weisen angesichts ihrer berichteten Häufigkeit auf ein systemisches Problem in Kroatien hin [...]. Jedenfalls kann zur Überzeugung der Kammer nach der Erkenntnismittellage nicht von singulären und zufällig vorkommenden Einzelfällen ausgegangen werden. Eine derartige Häufung solcher Vorfälle kommt zur Überzeugung der Kammer in der Regel auch nur dann vor, wenn die handelnden Täter wissen, dass in der disziplinar- bzw. strafrechtlichen Praxis keine persönlichen Konsequenzen folgen werden, das heißt de facto Impunität genießen (vgl. CPT, a.a.O., Rn. 29). Entgegen anderweitiger Darstellungen der Beklagten und auch in zahlreichen untergerichtlichen Entscheidungen erachtet die Kammer die Einordnung im Sinn eines "Fehlverhalten einzelner Polizeibeamter" als realitätsverzerrend und letztendlich verharmlosend. [...]

43 Nach allem bestehen in Anlehnung des Berichts des CPT bzw. der dort angeführten Kritik des Fehlens rechtsstaatlicher Aufarbeitungen tiefgreifende und ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass der kroatische Staat jedenfalls seit den Jahren 2018/2019 seine Rechtspflichten aus Art. 12, 13 und insbesondere Art. 16 Abs. 1 CAT systematisch verletzt bzw. unzureichend nachkommt. [...]

44 b) Die vorgenannten tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen zur allgemeinen überstellungsrelevanten Lage in Kroatien gehen auch mit der konkreten Gefährdung der Rechte des Klägers aus Art. 4 GRCh im Fall einer Rückkehr nach Kroatien einher. Die Kammer teilt dabei ausdrücklich die Prämisse, dass allein die Tatsache des Bestehens von Schwachstellen im Zielstaat, selbst wenn diese schwerwiegend sind, für sich genommen im Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht ausreichend ist, sofern sich diese Tatsachen nicht auch im konkreten Fall auf die zu überstellende Person auswirken [...]. Zur vollen Überzeugung der Kammer steht jedoch fest (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass die oben dargestellten regelhaft auftretenden Schwachstellen/Mängel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh begründen.

45 Die konkrete Gefahr einer Verletzung des Rechts des Klägers aus Art. 4 GRCh liegt vorliegend darin, dass ihm nach einer Rückkehr nach Kroatien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die anschließende weitere Überstellung nach Bosnien-Herzegowina droht. Gegen den Kläger liegt eine bestandskräftige und vollstreckbare Rückkehrentscheidung der kroatischen Polizei vor, mit welcher der Kläger nach einer Überstellung nach Kroatien konfrontiert wäre. Insoweit ist der Kläger von der derzeitigen kroatischen Verwaltungspraxis der sogenannten "7-Tage-Papiere", die nach den obigen Ausführungen wegen systematischen Unterlaufens der unionsrechtlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU als systemischer Mangel im kroatischen Asylsystem zu bewerten ist, konkret betroffen. [...]

47 Nach den verfügbaren Erkenntnismitteln aus dem Jahr 2023 ist auch davon auszugehen, dass die vorliegende Rückkehrentscheidung gegen den Kläger nach seiner Ankunft in Kroatien von den dortigen Behörden nach den Modalitäten des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina vollstreckt würde. [...]

48 Selbst wenn es aber dem Kläger im Einklang mit Art. 6 RL 2013/32/EU ermöglicht werden sollte, erstmals in Kroatien Zugang zu einem Asylverfahren zu bekommen, wäre nach dem vorliegenden Reiseverlauf des Klägers eine Ablehnung des Antrags gemäß den nationalen Drittstaatenregelungen Kroatiens bzw. gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 38 oder Art. 39 RL 2013/32/EU beachtlich wahrscheinlich. Auch im konkreten Fall des Klägers spricht Überwiegendes dafür, dass der Zugang zu einem Asylverfahren in Kroatien kein dauerhaftes rechtliches Hindernis gegen eine spätere Rücküberstellung nach Bosnien-Herzegowina darstellen würde. [...]

53 Schließlich erachtet die Kammer die oben dargestellten Schwachstellen in Bezug auf das systemische Stattfinden von Gewalthandlungen durch kroatische Polizeibeamte gegenüber Geflüchteten und deren defizitäre disziplinar- und strafrechtliche Verfolgung (gerade auch im Kontext der völkerrechtlichen Vorgaben aus Art. 12 ff. CAT) im Fall des Klägers als konkret überstellungsrelevant. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger die von ihm geschilderte Behandlung durch die kroatische Polizei (körperliche Misshandlungen in Form von Schlägen, Zerstörung von Eigentum) tatsächlich so erlebt hat. Art. 4 GRCh und Art. 3 Abs. 1 CAT haben im Hinblick auf das Refoulement-Verbot einen inhaltlich identischen Schutzbereich (vgl. Art. 53 GRCh). Bei der Frage, ob beachtliche Gründe im Sinn des Art. 3 Abs. 1 CAT vorliegen, ist gemäß Art. 3 Abs. 2 CAT zu prüfen, ob es in dem betreffenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzung der Menschenrechte gibt [...]. Der Kläger war auch selbst Behandlungen durch die kroatische Polizei ausgesetzt, die das CPT in seinem Bericht beanstandet hat (Körperliche Misshandlungen und Zerstörung von Eigentum). Angesichts der vorliegenden Erkenntnisse zur allgemeinen menschenrechtlichen Lage in Kroatien im Sinn von Art. 3 Abs. 2 CAT ist es daher im konkreten Fall mit Art. 3 Abs. 1 CAT nicht vereinbar, wenn eine betroffene Person wie der Kläger, der durch kroatische Polizeibeamte bereits körperliche Misshandlungen erfahren hat, in einen Staat rücküberstellt wird, in dem die handelnden Täter de facto Impunität genießen. [...]

55 Die Kammer übersieht bei dieser Bewertung insgesamt nicht, dass sich die Beurteilung der überstellungsrelevanten Lage in Kroatien in der Rechtsprechung (sowohl in der deutschen als auch der ausländischen) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht als umstritten darstellt [...] Aus der ausländischen europäischen Rechtsprechung haben der Niederländische Staatsrat (Raad van State) sowie das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht die ernstzunehmende Gefahr von Ketten-Pushbacks auch für Dublin-Rückkehrende betont [...]. Insbesondere die zitierte Entscheidung des Raad van State begründet – unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – eingehend, dass Pushbacks bzw. Ketten-Pushbacks in Kroatien routinemäßig stattfänden und im Dublin-Verfahren als aufklärungsbedürftiger Umstand berücksichtigt werden müssten. [...]

56 Ausgehend von den obigen Ausführungen schließt sich die Kammer der von der Beklagten zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris), der des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2023 (U.v. 11.10.2023 – 10 LB 18/23 – juris) sowie der diesen Urteilen folgenden untergerichtlichen Rechtsprechung nicht an. [...]

57 Abgesehen davon lassen die Ausführungen beider Obergerichte zum unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens eine argumentative Grundtendenz erkennen [...], welche mit einem wohl möglicherweise überdehnenden Verständnis des Begriffs des "Vertrauens" als solchem einhergeht und jedenfalls die nach Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu berücksichtigenden rechtlichen Maßgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht umsetzt [...]. Aus den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich wie ausgeführt deutlich entnehmen, dass es bei der Abschiebung in einen Drittstaat kein "blindes Vertrauen" geben darf, dass die abzuschiebende Person im Drittstaat menschenrechtskonform behandelt wird. Vielmehr muss sich der abschiebende Staat anhand der Berücksichtigung des Vorbringens der betroffenen Person sowie anhand (möglichst) aktueller Erkenntnismittel selbst vergewissern, dass dort keine unmittelbare oder mittelbare Verletzung des Rechts aus Art. 3 EMRK droht. [...]

58 Mit der praktischen Handhabung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens bzw. dessen Widerlegung in Bezug auf Kroatien dürften beide obergerichtliche Entscheidungen zugleich die Gefahrenmaßstäbe hinsichtlich Art. 4 GRCh überspannen. [...]

60 Weiter legen sowohl den Urteilen des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg als auch des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Grundannahmen zugrunde, welche die Kammer unter Berücksichtigung der allgemeinen überstellungsrelevanten Lage in Kroatien als fehlerhaft betrachtet. Die Argumentation des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg [...] und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts [...], dass Dublin-Rückkehrende in Deutschland vor einer Rückkehr nach Kroatien vorher regelmäßig anwaltlich vertreten seien und daher im Fall eines (Ketten-)Pushbacks nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien Kontaktpersonen hätten, die sie hätten benachrichtigen können, überzeugt nicht. Dabei wird zum einen in letztlich nicht belastbarer Weise unterstellt, dass Betroffene einer Überstellungsentscheidung nach Kroatien stets anwaltlichen Beistand hätten (die aktuellen Dublin-Verfahren vor der Kammer belegen mehrheitlich das Gegenteil). Letztendlich wird mit dieser Argumentation aber in entscheidender Weise der sich aus der Erkenntnismittellage ergebende Umstand übersehen, dass beteiligte Polizeibeamte in (Ketten-) Pushbackmaßnahmen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien regelmäßig Mobiltelefone der Betroffenen zerstört haben, um Beweise zu vernichten und die Kontaktaufnahme zu anwaltlichen Beistand oder NGOs unmöglich zu machen bzw. wenigstens (zeitnah) zu erschweren. [...]

64 Soweit beide Obergerichte schließlich auch eine konkrete Gefahrenlage bezüglich (Ketten-) Abschiebungen aufgrund der allgemeinen Verwaltungspraxis der sogenannten 7-Tage-Papiere ohne weitere Begründung verneinen [...], vermag auch dies nicht zu überzeugen. Beide Obergerichte übersehen, dass es sich bei den sogenannten 7-Tagen-Papieren wie oben ausgeführt um Rückkehrentscheidungen im Sinn der RL 2008/115/EG handelt, die auch nach kroatischem Recht so bezeichnet werden. Dies ist deshalb problematisch, weil Betroffene dieser Verwaltungspraxis nach der Rückkehr in Kroatien vor der Situation stehen, dass gegen sie eine bestandskräftige und vollstreckbare Abschiebungsandrohung in zwei Drittstaaten vorliegt, die nicht zur Europäischen Union gehören. [...]

66 3. Die Kammer geht im Übrigen – selbstständig tragend – davon aus, dass dem Kläger auch losgelöst von der Prüfung systemischer Mängel aufgrund des bestandskräftigen Ausweisungsbescheids der kroatischen Polizei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung nach Kroatien droht [...]. Selbst wenn man davon ausginge (was die Kammer nicht tut), dass der Erlass der sogenannten 7-Tage-Papiere in 30.000 Fällen europarechtlich zulässig war, würde dies nichts an der oben beschriebenen Situation ändern. Denn der Kläger stünde nach einer Rückkehr nach Kroatien wie ausgeführt vor der Situation, dass gegen ihn eine bestandskräftige und vollstreckbare Abschiebungsandrohung vorliegt, die seine Ausreise entweder nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien erzwingt. [...] Die Kammer geht vielmehr davon aus, dass es – entsprechend der vorliegenden Erkenntnisse – wahrscheinlicher ist, dass auch im Fall eines erneuten Asylgesuchs die gegen den Kläger ergangene Rückkehrentscheidung durch die kroatische Polizei vollstreckt würde. [...]