VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 08.05.2023 - 2 A 269/22 - asyl.net: M31561
https://www.asyl.net/rsdb/m31561
Leitsatz:

Systemische Mängel im kroatischen Asylsystem aufgrund gewalttätiger Push-Backs:

"1. Die Ausweisung von Asylsuchenden ohne individuelle Prüfung ihrer Asylanträge ist seit Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Migrationssteuerung durch das kroatische Innenministerium. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass auch die Organe der Europäischen Union die ungeprüfte Ausweisung von Asylsuchenden durch die kroatischen Behörden billigen.

2. Die tatsächlichen Erkenntnisse über den Umgang mit Asylsuchenden in Kroatien erschüttern das Vertrauen der EU-Mitgliedsstaaten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in Kroatien in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.

3. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, ist nur dann gerechtfertigt, wenn es dem Bundesamt oder dem entscheidenden Gericht gelingt, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2023 - A 4 S 2666/22 - asyl.net: M31553; entgegen: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.02.2023 - 10 LA 12/23 - asyl.net: M31345; unter Bezug auf: VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 369 f.) - asyl.net: M30975)

Siehe auch:

  • Carolin Dörr, Zur Bewertung menschenrechtswidriger "Push-backs" in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 10-11/2022, S. 350 f.
Schlagwörter: Kroatien, Dublinverfahren, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, GFK Art. 33
Auszüge:

[...]

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer  Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). [...]

Solche systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem bestehen darin, dass die kroatischen Behörden regelmäßig Asylsuchende ohne individuelle Prüfung ihrer Asylanträge über die kroatische EU-Außengrenze zurückdrängen oder sie im Rahmen von Kettenabschiebungen oder Kollektivausweisungen nach Serbien und Bosnien-Herzegowina abschieben.

Die Einzelrichterin bezieht sich insofern zunächst auf ihre Ausführungen im Urteil des VG Braunschweig im Urteil vom 24.05.2022 (- 2 A 26/22 -, juris): [...]

Europäische Gerichte dokumentierten und verhandelten auch bereits Todesfälle im Zusammenhang mit der Durchführung von "Push-backs" durch die kroatischen Behörden. [...]

In der zweiten Jahreshälfte 2022, als sich die EU in der Endphase der Prüfung des kroatischen Antrags auf Beitritt zum Schengen-Raum befand, griff die kroatische Polizei zunehmend auf eine alternative Taktik zurück, um Geflüchteten den Zugang zum Asylverfahren zu verwehren. Den Asylsuchenden wurden ohne Prüfung ihres Schutzbedarfs und außerhalb eines ordnungsgemäßen Verfahrens Ausweisungsbeschlüssen ("expulsion paper", "7 days paper") ausgehändigt, welche sie zum Verlassen des kroatischen Staatsgebiets innerhalb von sieben Tagen aufforderten [...]. Nachdem Kroatien zum 02.01.2023 sodann in den Schengen-Raum aufgenommen wurde, scheint die kroatische Polizei diese Praxis wieder aufgegeben zu haben. Im Grenzgebiet zu Bosnien-Herzegowina tätige NGOs dokumentierten im Anschluss daran wieder einen deutlichen Anstieg gewaltsamer "Push-backs" [...].

Anfang April 2023 veröffentlichte die niederländische Journalistengruppe Lighthouse Reports Screenshots aus WhatsApp-Gruppen der kroatischen Polizei, in denen Grenzbeamte Fotos von zwischen August 2019 und Februar 2020 durchgeführten Festnahmen von mehr als 1.300 Migranten teilten. Die Personen auf den Bildern kauern oder liegen barfuß mit den Gesichtern nach unten auf dem Boden, während sie von Männern in Tarnkleidung und mit Maschinenpistolen bewacht werden. Befragte Polizeiquellen nahmen an, dass die Gruppe wahrscheinlich benutzt wurde, um inoffiziell die Festnahme von Migranten zu dokumentieren, die systematisch über die Grenze zurückgeschoben wurden. Mitglieder der WhatsApp-Gruppe "OA Korridor II West" waren unter anderem hohe Beamte wie der kroatische Grenzpolizeichef Zoran Niceno oder Jelena Bikic, die Pressesprecherin der kroatischen Polizei [...]. Diese Recherchen lassen den Schluss zu, dass "Push-backs" von der kroatischen Regierung nicht nur geduldet, sondern gefördert werden.

Dennoch haben die Organe der Europäischen Union mit der Aufnahme Kroatiens in den Schengen-Raum - ungeachtet der Proteste zahlreicher Menschenrechtsorganisationen wie des Danish Refugee Council, Human Rights Watch und Amnesty International [...] - zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht die Absicht haben, gegen die menschenrechtswidrige "Push-back"-Praxis in Kroatien vorzugehen. Im Gegenteil erklärte der Berichterstatter des Europäischen Parlaments Paulo Rangel nach einem Besuch in Kroatien sowie in dessen Grenzgebieten in einer Sitzung des Parlamentsausschusses für Justiz und Inneres, er sei persönlich zu dem Schluss gekommen, dass die Sicherheit an den Grenzen und die Achtung der Grundrechte "sehr zufriedenstellend" seien. [...]

In jüngster Zeit verstießen die kroatischen Behörden indes in ungewohnt offener und selbstbewusster Art und Weise gegen das Non-Refoulement-Gebot und begannen, auf dem gesamten Staatsgebiet Kroatiens Geflüchtete einzusammeln und in Kollektivausweisungen mittels Bussen in die Aufnahmezentren Lipa und Borici in Bosnien-Herzegowina zu transportieren. [...]

Die in Kroatien praktizierten "Push-backs", Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Nach Rechtsprechung des EGMR liegt in der Zurückweisung eines Asylantrags zudem ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, wenn der ausweisende Staat zuvor nicht prüft und bewertet, ob es infolge der Ausweisung zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers kommen kann [...].

Ob die Verstöße Kroatiens gegen das Non-Refoulement-Prinzip auch der Rückführung von Dublin-Antragstellern nach Kroatien entgegenstehen, ist in der europäischen Rechtsprechung umstritten. [...]

Angesichts der Masse der vorliegenden Erkenntnismittel, die Kroatiens mangelnde Bereitschaft zur Aufnahme oder auch nur zu einer menschenwürdigen Behandlung Geflüchteter belegen, ist nicht nachvollziehbar, wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zu der Einschätzung kommt, es lägen "unzureichende tatsächliche Erkenntnisse" dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer in Kroatien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt sind und das Asylsystem in Kroatien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leidet (Nds. OVG, Beschluss vom 22.02.2023 - 10 LA 12/23 -, juris Rn. 5). Aus den aufgeführten Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Kroatien ohne individuelle Prüfung sowohl solche Geflüchtete, die aus anderen EU-Ländern rücküberstellt werden, hinter die EU-Außengrenzen abschiebt als auch solche, die sich am helllichten Tag im Landesinneren wie etwa in der Hauptstadt Zagreb aufhalten. Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räumt den Geflüchteten keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern Dublin-Rückkehrer sind nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu behandeln wie Erstantragsteller. Wenn sie Kroatien vor Abschluss des Asylverfahrens verlassen, wird ihr Verfahren ausgesetzt, und sie müssen nach ihrer Rückkehr erneut einen Antrag stellen, um das Asylverfahren fortzusetzen oder neu einzuleiten (Croatian Law Centre/Hrvatski pravni centar (HPC), Country Report: Dublin, 22.04.2022). Eine Differenzierung, wie etwa zwischen anerkannten international Schutzberechtigten und Asylbewerbern, ist damit nicht angezeigt.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht lässt dementsprechend auch offen, inwiefern "die Situation von aus Deutschland rücküberstellten Dublin-Rückkehrern, zu deren Wiederaufnahme sich Kroatien [...] ausdrücklich bereit erklärt hat, sich deutlich von der Situation von Asylbewerbern unterscheidet, die beispielsweise bei dem Versuch die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien zu überschreiten, zurückgedrängt worden sind" (Nds. OVG, a. a. O., Rn. 8). Die Abdrängung unmittelbar an der Grenze ist nur ein, wenn auch ein häufiges und das am besten dokumentierte Beispiel der von den kroatischen Behörden praktizierten Abschiebemaßnahmen. Gemessen an den jüngsten Entwicklungen geht Kroatien nunmehr offenbar zunehmend zu Kollektivausweisungen von seit Längerem im Landesinneren aufhältigen Migranten über. Die kroatischen Behörden dürften bereits festgestellt haben, dass die Organe der Europäischen Union ihre systematischen Menschenrechtsverletzungen ignorieren, wenn nicht gar billigen. Nach vollzogenem Schengen-Beitritt und jahrelangem Ausbleiben eines Vertragsverletzungsverfahrens ist nicht ersichtlich, warum die kroatischen Behörden vor Verstößen gegen die Dublin III-Verordnung zurückschrecken sollten, während sie zugleich die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Qualifikationsrichtlinie regelmäßig verletzen.

Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten ist durch die erwiesenen systemischen Mängel des Asylsystems und der Aufnahmebedingungen in Kroatien nachhaltig erschüttert. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer künstlich von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, ist damit nur dann gerechtfertigt, wenn es dem Bundesamt oder dem entscheidenden Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gelingt, zu belegen, dass Dublin- Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen. [...]