OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18.04.2024 - 13 A 10157/24.OVG - asyl.net: M32440
https://www.asyl.net/rsdb/m32440
Leitsatz:

Keine Zulassung der Berufung wegen fehlender persönlicher Anhörung einer inhaftierten Person:

1. Die Anwesenheit eines/einer Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ist grundsätzlich zur Wahrung des aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruchs auf rechtliches Gehör ausreichend. Die persönliche Anwesenheit von Kläger*innen in der mündlichen Verhandlung fordert Art. 103 Abs. 1 GG nur, wenn die richterliche Überzeugungsbildung gemäß § 108 Abs. 1 S.1 VwGO gerade deren persönliche Anwesenheit notwendig macht, etwa, weil es entscheidungserheblich auf die Glaubhaftigkeit seines individuellen Vortrags oder deren Glaubwürdigkeit ankommt.

2. Aus dem Umstand, dass eine schutzsuchende Person im Verwaltungsverfahren (hier: im Widerrufsverfahren) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] nicht persönlich angehört wurde, führt nicht dazu, dass sie zwingend in der mündlichen Verhandlung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren persönlich angehört werden muss. Eine fehlende persönliche Anhörung durch das BAMF ist insofern lediglich eine Frage der formellen Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung. 

3. Eine fehlerhafte oder gar unterbliebene Anhörung im behördlichen Asylverfahren, speziell im Widerrufsverfahren, kann durch eine Anhörung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht gemäß der §§ 45, 46 VwVfG geheilt werden.

4. Im Widerrufsverfahren ist gemäß § 73b Abs. 6 S. 1 AsylG die beabsichtigte Entscheidung über einen Widerruf oder eine Rücknahme schriftlich unter Angabe der Gründe mitzuteilen und Gelegenheit zu einer mündlichen oder schriftlichen Äußerung zu geben. Einer persönlichen Anhörung zur geplanten Aufhebung des Schutzstatus bedarf es nicht. Diese Regelung entspricht auch Art. 45 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22.06.2022 - 4 LZ 139/22 - asyl.net: M30900)

Schlagwörter: persönliches Gespräch, Anhörung, Anhörungsrüge, mündliche Verhandlung, persönliche Anwesenheit, Rechtsanwalt, Prozessbevollmächtigte, Widerruf, Rücknahme, Berufungszulassungsantrag, Heilung,
Normen: GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 108 S. 1, VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3, VwVfG § 46, AsylG § 25 Abs. 1, AsylG § 73b Abs. 6 S. 1
Auszüge:

[...]

3 2. Die Berufung ist zunächst nicht aufgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. [...]

10 Der Senat hat bereits mit Beschluss vom 27. Juli 2023 (13 A 10956/22.OVG, juris) entschieden, dass das Verwaltungsprozessrecht den "Kläger" als Beteiligten i.S.d. § 63 Nr. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – nicht als Individuum, sondern als prozessrechtliche Entität versteht, sodass die Anwesenheit seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich zur Wahrung des aus Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz – GG – resultierenden Gehörsanspruchs ausreichend ist [...]. Spiegelbildlich existiert auch kein prinzipieller prozess- oder verfassungsrechtlicher Anspruch eines Klägers im Sinne einer Pflicht des Gerichts, zur Wahrung der Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG in jedem Fall nur bei persönlicher Anwesenheit der Beteiligten zu verhandeln [...]. Die persönliche Anwesenheit des Klägers in der mündlichen Verhandlung wird nur dann von Art. 103 Abs. 1 GG gefordert, wenn die richterliche Überzeugungsbildung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gerade dessen persönliche Anwesenheit notwendig macht, etwa, weil es entscheidungserheblich auf die Glaubhaftigkeit seines individuellen Vortrags oder dessen Glaubwürdigkeit ankommt [...].

13 3. Die Berufung ist vor allem auch nicht deshalb zuzulassen, weil die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO im konkreten Einzelfall auf einem schweren Verfahrensfehler in der Gestalt der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen würde: [...]

16 aa. Sie moniert zunächst, dass das Verwaltungsgericht nicht habe in der Sache entscheiden dürfen, ohne den Kläger persönlich zu den ihm im Libanon drohenden Gefahren anzuhören. In diesem Fall hätte der Kläger im Besonderen vorgetragen, dass er befürchte, durch die Hisbollah verfolgt zu werden, da er aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik, seinen "perfekten" deutschen Sprachkenntnissen und den vormals "bedingten" Kontakten seiner Familie zu den libanesischen Behörden von besonderem Interesse für diese Organisation sei. Zudem hätte er noch ausführen können, dass er im Libanon "in der aktuellen Lage des Krieges mit Israel" auf sich allein gestellt wäre und dass die Beklagte irrtümlich davon ausgegangen sei, er sei in der Vergangenheit bereits mehrfach in den Libanon (zurück) gereist (vgl. S. 7 f. d. Antragsschrift). Da der Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der JVA ... inhaftiert gewesen sei, hätte das Verwaltungsgericht letztlich das persönliche Erscheinen des Klägers (vgl. § 95 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und damit dessen Vorführung aus der Haft anordnen müssen. [...]

18 Namentlich wird mit dem Zulassungsvorbringen an keiner Stelle dezidiert dargetan, weshalb der entsprechende Vortrag nicht – schriftsätzlich oder in der mündlichen Verhandlung – durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers hätte erfolgen können. [...]

19 bb. Die weitere Rüge, wonach der Kläger jedenfalls deshalb hätte persönlich angehört werden müssen, weil er im Verwaltungsverfahren auch durch die Beklagte nicht angehört worden sei (vgl. S. 11 d. Antragsschrift), trägt ebenfalls nichts zugunsten des Klägers aus. Insoweit ist bereits dogmatisch trennscharf zwischen den verwaltungsverfahrens- und speziellen asylverfahrensrechtlichen Regelungen einerseits sowie der Pflicht des Verwaltungsgerichts, in einem anschließenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO hinreichend rechtliches Gehör zu gewähren, andererseits zu unterscheiden. Denn eine fehlerhafte oder gar unterbliebene Anhörung des Klägers im behördlichen Asylverfahren, speziell im Widerrufsverfahren, kann zwar durch das Verwaltungsgericht nicht mehr nach Maßgabe des § 45 oder § 46 VwVfG geheilt werden [...]. Dies führt indessen nicht – gewissermaßen reflexartig – zu einer Gehörsverletzung auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, sondern allenfalls zu einer formellen Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides, der zu dessen Aufhebung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO führen kann [...].

20 Ungeachtet dessen wäre eine persönliche Anhörung des Klägers im Verfahren nach § 73 AsylG auch in der Sache nicht notwendig gewesen. Denn gemäß § 73b Abs. 6 Satz 1 AsylG ist dem Ausländer die beabsichtigte Entscheidung über einen Widerruf oder eine Rücknahme schriftlich unter Angabe der Gründe mitzuteilen und ihm ist Gelegenheit zu einer mündlichen oder schriftlichen Äußerung zu geben. Entsprechendes sieht auch der insoweit umgesetzte Art. 45 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU vor, der verfahrensrechtlich ebenfalls ein schriftliches In-Kenntnis-Setzen (lit. a) sowie die Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung oder einer schriftlichen Erklärung genügen lässt (lit. b). Diese Voraussetzungen wurden hier gewahrt. Die Beklagte hat den Kläger mit Schreiben vom 6. Mai 2022 über die beabsichtigte Maßnahme in Kenntnis gesetzt, woraufhin der Klägerbevollmächtigte unter dem 8. Juli 2022 auch zur Sache ausgeführt hat (vgl. S. 2 f. des Bescheides vom 18. Juli 2022 und S. 89R ff. der Verwaltungsakte). [...]