Keine Zwangsrekrutierung von Dorfschützern in der Türkei:
1.Das System der Dorfschützer hat sich in den letzten Jahren zu einer kurdischen, regierungsfreundlichen, paramilitärischen Einheit entwickelt, die neben dem türkischen Militär sogar über die Grenzen hinweg in Syrien und im Irak operiert.
1. Es liegen keine Erkenntnisse oder Hinweise vor, dass die Rekrutierung von Dorfschützern in der Türkei zwangsweise erfolgt. Vielmehr bilden wirtschaftliche Gründe ein bedeutendes Motiv für den Wunsch, Dorfschützer zu werden. Sie erhalten Gehälter wie Beamte und leben in nahezu vollständig gesicherten sozialen Verhältnissen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Kläger ist türkischer Staatsbürger kurdischer Volkszugehörigkeit. [...] In seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 20.10.2021 gab er zu den Gründen der Ausreise aus der Türkei im Wesentlichen an, Dorfschützer und Soldaten hätten Druck auf Mitglieder seiner Familie ausgeübt. Es sei mehrfach zu Körperverletzungsdelikten gekommen, als die Familie Schafe gehütet habe. Man wolle sie dazu bringen, als Spitzel für den Staat zu arbeiten und gegen andere zu kämpfen. [...]
Mit Bescheid vom 2.12.2021 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen. [...]
Am 14.12.2021 hat der Kläger zum Verwaltungsgericht Klage erhoben und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (5 L 814/21.A). Er sei vor der drohenden Zwangsrekrutierung als Dorfschützer geflohen. Auf Grund der Zuschreibung der Eigenschaft eines Staatsfeindes wegen des hartnäckigen Entziehens von einer vermeintlichen staatsbürgerlichen Pflicht drohe ihm Festnahme und Folter durch Polizeikräfte. Nach dem Scheitern des Friedensprozesses mit der PKK sei es nicht zum Auslaufen des Dorfschützersystems gekommen. Vielmehr habe man 25.000 neue Dorfschützer rekrutiert. Diese seien zentral erfasst. Staatlichen Schutz vor den Diskriminierungen am Arbeitsplatz habe er in dieser Situation nicht erlangen können. Denn den Kontakt zu Polizei und Jandarma habe er vermeiden müssen, um nicht zum Dorfschützerdienst zurückgeschickt zu werden. Als der Onkel altersbedingt aus dem Dorfschützerdienst ausgeschieden sei, sei der Druck auf ihn erhöht worden, an dessen Stelle Dorfschützer zu werden. Viermal habe man ihm die rechte Schulter ausgekugelt. Dies sei durch Mitglieder der Jandarma geschehen. Es sei bei diesen Maßnahmen darum gegangen, ihn gefügig zu machen und zur Mitarbeit zu bewegen. Er habe sich dann überwiegend auf Baustellen in Großstädten aufgehalten. An die Familie sei aber weiterhin die Forderung herangetragen worden, dass er zum Dorfschützerdienst erscheine. Im Jahr 2021 sei die Situation eskaliert, als es einen Überfall auf zwei seiner Brüder und die Schwester gegeben habe. [...]
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg. [...]
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, 4 AsylG. [...]
aa) Der Kläger ist unverfolgt ausgereist.
(1) Insbesondere eine Vorverfolgung durch Sicherheitskräfte wegen der Weigerung, Dienst bei den Dorfschützern zu leisten, konnte er nicht glaubhaft machen.
(a) Bei den Dorfschützern handelt es sich um bewaffnete Einheiten, die der Befriedung der kurdischen Gebiete dienen sollen und Ziele des Zentralstaats verfolgen. Mit Blick auf ihre Funktion und konkreten Aufgaben wäre es ohnehin verwunderlich – es gibt aber auch keinerlei Hinweise in den Erkenntnismitteln, dass Rekrutierungen als Dorfschützer (auch) zwangsweise erfolgten. Vielmehr ist es so, dass die Dorfschützer Gehälter wie Beamte erhalten und außerdem auch außerhalb des Dienstes Waffen tragen dürfen. Sie sind auf dem neuesten Stand der Technik ausgerüstet und genießen gewisse Privilegien bei der Strafverfolgung. Durch Umstrukturierungen ist nunmehr die Möglichkeit eröffnet, vom Dorfschützer zu einem Mitglied der Berufsarmee befördert oder sogar Offizier zu werden. Das System der Dorfschützer hat sich in den letzten Jahren zu einer kurdischen, regierungsfreundlichen, paramilitärischen Einheit entwickelt, die neben dem türkischen Militär sogar über die Grenzen hinweg in Syrien und im Irak operiert [...]. In neueren Erkenntnismitteln findet sich folglich kein Hinweis mehr auf Zwangsrekrutierungen. Zwar erfolgte die Rekrutierung in der Vergangenheit über die kurdischen Clanstrukturen, die aus finanziellen Gründen durchaus auch Druck auf Betroffene ausüben konnten. Die aktuelle Ausgestaltung des Amtes, verbunden mit den finanziellen Vorteilen und der Immunität, hat aber dazu geführt, dass sich unterschiedliche Bevölkerungsschichten für das System der Dorfschützer haben gewinnen lassen [...]. Es wird aktuell als Organisation staatlich angestellter, bewaffneter, kurdischer Einheimischer charakterisiert, von der im Grundsatz keine politisch motivierte Verfolgung ausgehe [...]. Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den vom Klägervertreter vorgelegten rechtswissenschaftlichen Aufsätzen entnehmen. So befasst sich S…. (Sicherheitspersonal im Türkischen Recht) ersichtlich in seinem Beitrag lediglich mit den sozialversicherungsrechtlichen Aspekten der Anstellung als Dorfbeschützer. Und F……./Ö…….(Sicherheits- und Dorfwächter-Paradigma zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit) zeigen zwar in ihrem Beitrag auf, dass das System der Dorfschützer verschiedene Defizite aufweist, etwa bei der institutionellen Zuständigkeit für die Ernennung der Mitglieder oder auch hinsichtlich der Entlohnung [...]. Für Zwangsrekrutierungen ist aber auch hier nichts ersichtlich. Ganz im Gegenteil weist gerade diese Studie darauf hin, dass der Dienst im Sicherheitspersonal eine wichtige Quelle für den Lebensunterhalt in der Region sei und wirtschaftliche Gründe ein bedeutendes Motiv für den Wunsch bildeten, Dorfbeschützer zu werden. Entsprechend habe sich das Bildungsniveau der Dienstleistenden in der letzten Zeit deutlich verbessert, die Dorfschützer lebten nahezu vollständig in gesicherten sozialen Verhältnissen, 99 % von ihnen seien verheiratet, 86 % hätten vier und mehr Kinder [...].
(b) Mit dieser Einschätzung lässt sich der Vortrag des Klägers ohnehin nur schwer in Einklang bringen [...]. Denn es wäre höchst verwunderlich, würde der Staat zur Besetzung solcher privilegierten Stellen der bewaffneten Sicherheitskräfte gerade jene Personen (zwangs-)rekrutieren, die als politische Feinde gelten und gegen deren Tätigkeiten vorgegangen werden soll. [...]
Die Einschätzung des Gerichts zur Wahrhaftigkeit der Schilderungen wird letztlich auch durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7.3.2024 gestützt. Danach fehlen in der türkischen und kurdischen Presse Hinweise darauf, dass es zwangsweise Rekrutierungen durch türkische Sicherheitsbehörden geben würde. Vielmehr finden sich verschiedene Berichte dazu, dass sich bei Ausschreibungen deutlich mehr Bewerber fänden, als Stellen verfügbar sind. Zwar weist der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu Recht darauf hin, dass solche Berichte immer kritisch daraufhin geprüft werden müssten, ob es sich nicht um Propaganda der Regierung handelt, die den Dorfschützerdienst als attraktiv erscheinen lassen soll. Andererseits ist aber das vollständige Fehlen von Berichten über Zwangsrekrutierungen in den Medien schon auffällig. Denn es gibt durchaus noch eine von der Regierung unabhängige Presse, die Missstände in der Türkei anprangert, insbesondere im Internet. Gleichwohl findet sich offenbar nichts zu diesem Thema. [...]
Unabhängig von der Wahrhaftigkeit der Schilderungen des Klägers bleibt zu berücksichtigen, dass für ihn jedenfalls die Möglichkeit bestand, dem Druck zur Dienstleistung bei den Dorfschützern durch Ausweichen in andere Regionen der Türkei zu entgehen (§ 3e AsylG). Denn alle Erkenntnisquellen weisen darauf hin, dass das System der Dorfschützer streng geographisch untergegliedert ist und jedes Mitglied nur in der Gemeinde zum Einsatz kommt, in der es lebt und ernannt wird [...]. Mit anderen Worten scheidet derjenige von vornherein für eine Heranziehung aus, der sich dauerhaft außerhalb der Südosttürkei auffällt. Das liegt eigentlich auch auf der Hand, da er anderenfalls zur Ableistung des Dienstes, der in der Regel als Vollzeitstelle ausgestaltet ist, seinen Wohnsitz verlegen müsste. Für derartig massive Eingriffe in die Lebensverhältnisse der Betroffenen gegen dessen Willen fehlt es aber an jeglicher Rechtsgrundlage. Zudem käme es zu Konkurrenzen zwischen den verschiedenen Orten, weil potentiell sowohl die aktuelle Wohnsitzgemeinde wie auch ein früherer Heimatort Interesse an der Dienstleistung haben könnten. Für die Auflösung einer solchen Konkurrenz fehlt es ebenfalls an Rechtsgrundlagen. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Behörden am Ort des aktuellen Aufenthaltes Aktivitäten dritter Behörden zur Durchsetzung eines Dienstes anderenorts hinnehmen oder gar unterstützen würden, zumal – wenn sie wie hier – nicht im Einklang mit der Rechtsordnung stehen. [...]