Anspruch auf Untersuchung der Reisefähigkeit und Duldung:
1. Fachärztliche Stellungnahmen machen die Reiseunfähigkeit nur dann glaubhaft und widerlegen die Vermutung des § 60a Abs. 2c S. 1 AufenthG, wenn dargelegt wird, dass die mit der Abschiebung verbundenen Gefahren nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder effektiv gemindert werden können.
2. Erfüllen die vorgelegten ärztlichen oder psychologischen Stellungnahmen nicht die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG, ergeben sich aus diesen oder aus sonstigen Erkenntnisquellen aber ausreichend Indizien für eine Reiseunfähigkeit, ist die Ausländerbehörde regelmäßig verpflichtet, eine amtsärztliche Untersuchung samt Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens zu veranlassen.
3. Da bei der Frage der Reisefähigkeit das Grundrecht des Betroffenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) tangiert wird und sich die möglichen Folgen, die bei einer trotz Reiseunfähigkeit durchgeführten Abschiebung entstehen, häufig nicht oder nur schwer rückgängig machen lassen, ist der Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht erst dann geboten, wenn die Reiseunfähigkeit der betroffenen Person positiv feststeht, sondern bereits dann, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Ausländer wegen einer (psychischen) Erkrankung nicht reisefähig ist.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.06.2021 - 2 M 43/21 - landesrecht.sachsen-anhalt.de)
[...]
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, den Antragsteller im Hinblick auf seine Reisefähigkeit amtsärztlich zu untersuchen und dabei erforderliche fachärztliche Ergänzungsgutachten einzuholen und zu berücksichtigen. Bis zur Vorlage des amtsärztlichen Gutachtens wird der Antragsgegner verpflichtet, den Antragsteller zu dulden. [...]
1. Es besteht ein Anordnungsgrund, da der Antragsteller aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... 2017 vollziehbar ausreisepflichtig ist, ihm die Abschiebung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 AufenthG angedroht worden ist und der Antragsgegner beabsichtigt, ihn abzuschieben. [...]
2. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch im Hinblick auf den Hilfsantrag glaubhaft gemacht.
Eine Abschiebung ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung ist unter anderem gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers allein durch die Ortsveränderung voraussichtlich wesentlich verschlechterte oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstünde (Transportunfähigkeit oder Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), aber auch dann, wenn das ernsthafte Risiko zu gewärtigen wäre, dass – außerhalb des Transportvorgangs – unmittelbar durch die Abschiebung als solche und unabhängig vom Zielstaat sich der Gesundheitszustand des Abzuschiebenden wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechterte (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne), ohne dass derlei Gefahren durch Vorkehrungen im Rahmen einer besonderen Gestaltung des Abschiebevorgangs ausgeschlossen oder minimiert werden könnten [...]. Hierunter fällt auch, wenn dem Ausländer bei seiner Ankunft im Zielstaat eine Gefährdung im Sinne des oben aufgezeigten Maßstabs droht, weil es an einer erforderlichen, unmittelbar nach der Ankunft einsetzenden Versorgung und Betreuung fehlt [...]. Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet [...].
a) Der Hauptantrag ist unbegründet. Die Reiseunfähigkeit des Antragstellers ist nicht glaubhaft gemacht. [...]
Die vorgelegten aktuellen fachärztlichen Stellungnahmen/Arztbriefe [...] widerlegen die nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG vermutete Reisefähigkeit nicht.
Die fachärztlichen Stellungnahmen/Arztbriefe diagnostizieren u.a. eine rezidivierende depressive Störung (jeweils gegenwärtige schwere Episode), eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Somatisierungsstörung und schildern Suizidgedanken des Antragstellers. So heißt es im vorläufigen (aktuellsten) Entlassungsbericht des Fachklinikums vom … 2021, dass vor dem Hintergrund der psychiatrischen Diagnosen im Falle einer Abschiebung mit suizidalen Handlungen des Antragstellers zu rechnen sei [...].
Dies allein macht die Reiseunfähigkeit aber nicht glaubhaft. Unabhängig davon, ob der genannte vorläufige Entlassungsbrief die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG erfüllt, folgt aus den Feststellungen nicht die Reiseunfähigkeit des Antragstellers.
Denn neben dem Vorliegen einer konkreten Gefahr ist zu verlangen, dass diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder effektiv gemindert werden kann [...].
b) Der Hilfsantrag ist hingegen begründet. Der Antragsgegner ist verpflichtet, die Reisefähigkeit des Antragstellers durch eine amtsärztliche Untersuchung samt Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach- )ärztlichen Gutachtens überprüfen zu lassen, und den Aufenthalt des Antragstellers vorübergehend zu dulden.
Die Ausländerbehörde ist in Anwendung des § 24 VwVfG i.V.m. § 1 NvwVfG verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung samt der Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein [...]. Da bei der Frage der Reisefähigkeit das Grundrecht des Betroffenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) tangiert wird und sich die möglichen Folgen, die bei einer trotz Reiseunfähigkeit durchgeführten Abschiebung entstehen, häufig nicht oder nur schwer rückgängig machen lassen, ist der Erlass einer Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht erst dann geboten, wenn die Reiseunfähigkeit des Ausländers positiv feststeht, sondern bereits dann, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Ausländer wegen einer (psychischen) Erkrankung nicht reisefähig ist. [...]