VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 28.03.2024 - 24 B 22.31108 - asyl.net: M32347
https://www.asyl.net/rsdb/m32347
Leitsatz:

Unzulässigkeitsentscheidung wegen Anerkennung in Bulgarien für nicht vulnerable Personen:

"1. Asylanträge von Ausländern, die arbeitsfähig und nicht vulnerabel sind und denen die Republik Bulgarien bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat, dürfen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Einer Unzulässigkeitsentscheidung steht Art. 4 GRCh nicht entgegen. Auch wenn diesen Personenkreis unmittelbar nach Rückkehr schwierige Lebensbedingungen erwarten, geht damit keine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation extremer materieller Not einher. Für anerkannt Schutzberechtigte ist es unter Zuhilfenahme von vorhandenen Unterbringungs- und Unterstützungsangeboten grundsätzlich möglich, ihre elementarsten Bedürfnisse zu erfüllen.

2. Eine Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist bereits zu bejahen, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz in der Vergangenheit gewährt wurde. Auf den Fortbestand des Schutzstatus kommt es daher nicht an."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.07.2023 - 11 A 2811/21.A (Asylmagazin 10-11/2023, S. 358 f.) - asyl.net: M31764; VG Oldenburg, Urteil vom 02.03.2023 - 12 A 849/22 (Asylmagazin 4/2023, S. 99 f.) - asyl.net: M31356)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Anerkennung, Erlöschen, Erlöschen der Anerkennung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

14 I. Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. [...]

15 1. Der Kläger hat – das ist unbestritten – am 12. Dezember 2017 durch Bulgarien als Mitgliedstaat der Europäischen Union subsidiären Schutz und damit internationalen Schutz im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erhalten [...]. Auf den Fortbestand dieses gewährten Schutzstatus kommt es nicht an. Hierfür spricht bereits die grammatische Form des Wortlauts in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ("wenn ein anderer Mitgliedstaat … Schutz … gewährt hat"). Wäre es dem Gesetzgeber auf den Fortbestand des Schutzstatus angekommen, hätten sowohl andere Formulierungen ("wenn der durch einen anderen Mitgliedstaat gewährte Schutz fortbesteht") oder zumindest eine andere Zeitform des jetzigen Wortlauts ("wenn ein anderer Mitgliedstaat … Schutz … gewährt") näher gelegen. Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift kommt es allein auf eine Schutzgewährung in der Vergangenheit und nicht auf deren Fortbestand an. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dient wie seine unionsrechtliche Rechtsgrundlage in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie dazu, Sekundärmigration zu verhindern (EG 13 Verfahrensrichtlinie) und Verwaltungsressourcen zu schonen. Es soll stets nur ein Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein und nicht mehrfache Asylanträge geprüft werden müssen [...]. Es kann daher nicht in das Belieben des Asylbewerbers gestellt werden, den gewährten Schutz durch eigene Handlungen oder Unterlassungen zum Erlöschen zu bringen oder Widerrufsgründe zu schaffen, um anschließend ein weiteres Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten [...]. Es obliegt dem Betroffenen, gegen eine Schutzbeendigung mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln vor den Gerichten des schutzgewährenden Mitgliedstaats vorzugehen, nicht aber dem Bundesamt oder den deutschen Verwaltungsgerichten, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen [...].

16 Der Vortrag des Klägers, die bulgarischen Behörden würden den gewährten Schutzstatus mit Ablauf der Gültigkeit und der Verlängerungsfrist entziehen, ist daher nicht relevant (vgl. gegen die klägerische Behauptung die Darstellung von Rechtslage und Verwaltungspraxis durch das Auswärtige Amt, Auskunft an das VG Stade vom 12.5.2021, pdf-S. 2 f.; vgl. auch die Wiedergabe der einschlägigen Vorschrift in englischer Sprache bei AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 102 f.).

17 2. Eine Unzulässigkeitsentscheidung ist auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen ausgeschlossen, denn sie verstößt nicht gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (ABl Nr. C 303 S. 1 – EU-Grundrechtecharta – GRCh).

18 a) Von der Befugnis nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie darf das Bundesamt keinen Gebrauch machen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass den Kläger bei seiner Rückkehr nach Bulgarien Lebensverhältnisse erwarten würden, die mit seinen Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar sind [...]. In einem solchen Fall ist deshalb bereits die Unzulässigkeitsentscheidung (und nicht erst die Abschiebungsandrohung) rechtswidrig [...].

19 Von praktischer Relevanz ist insoweit Art. 4 GRCh. Die Norm verbietet ausnahmslos insbesondere jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. [...]

28 Im Rahmen der Prognose, ob ein Betroffener bei Rückkehr unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, sind zum einen die örtlich vorherrschenden Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, zu berücksichtigen (wirtschaftliche Rückkehrsituation). [...] Zum anderen sind bei der Bewertung die staatlichen Unterstützungsleistungen und auch die – alleinigen oder ergänzenden – dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen zu berücksichtigen [...].

29 b) Bei Anwendung dieses Maßstabs erwarten den Kläger als volljährigen, arbeitsfähigen und nicht vulnerablen anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien keine Lebensverhältnisse, die ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh zu erfahren.

30 aa) Auf Basis der verfügbaren und aktuellen Erkenntnismittel ist nicht anzunehmen, dass der als schutzberechtigt anerkannte Kläger, der alleinstehend, gesund und arbeitsfähig ist, bei seiner Rückkehr nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, obwohl Rückkehrer bei ihrer Integration auch weiterhin mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Es bestehen im Allgemeinen ausreichende Möglichkeiten, nicht vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig zu sein, oder aber jedenfalls unter Inanspruchnahme von bestehenden Unterstützungsangeboten sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden.

31 (1) In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Situation in Bulgarien zwar im Allgemeinen und damit auch für Rückkehrer schwierig. Es bestehen aber dennoch grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten, Erwerbsmöglichkeiten zu ergreifen und so zumindest einen Betrag zum eigenen Lebensunterhalt zu leisten.

32 Anerkannt Schutzberechtigte haben zum Arbeitsmarkt in rechtlicher Hinsicht auf die gleiche Weise Zugang wie bulgarische Staatsbürger. Zwar haben viele der arbeitenden anerkannt Schutzberechtigten nur schlecht bezahlte und unqualifizierte Beschäftigungen; sie können aber dennoch auf diese Weise einen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt erwirtschaften. [...]

33 Zudem geben internationale Organisationen Hilfestellung und unterstützen bei der Integration in den Arbeitsmarkt. [...]

34 (2) Soweit es nicht gelingt, auf dem Arbeitsmarkt selbst Fuß zu fassen, bieten zahlreiche nichtstaatliche Organisationen karitative Hilfe – auch über die unmittelbare Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt hinaus – an, die verhindern, dass Rückkehrer trotz ihrer gegebenenfalls weitreichenden Abhängigkeit von Unterstützung in eine Situation extremer materieller Not geraten. [...]

35 Staatliche Unterstützungsleistungen aus den allgemeinen Sozialversicherungssystemen stehen den anerkannt Schutzberechtigten faktisch nur selten zur Verfügung, auch wenn sie rechtlich unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialleistungen haben (die Sozialhilfe beträgt ca. 38 EUR pro Monat, vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 7.4.2021). Denn Anerkannte sehen sich häufig mit hohen Zugangshürden konfrontiert, die einer tatsächlichen Inanspruchnahme der Leistungen vielfach entgegenstehen. [...]

36 (3) Hinsichtlich der für die Rückkehrprognose auch relevanten Frage nach der Verfügbarkeit ausreichender Unterkunftsmöglichkeiten, rechtfertigt die Lage in Bulgarien nicht die Annahme einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Rückkehrer haben trotz bestehender Schwierigkeiten ausreichende Möglichkeiten, eine Unterkunft zu finden.

37 (a) Für eine Unterkunft sind Rückkehrer – vorbehaltlich anderweitiger Notunterkünfte (dazu unten Rn. 41) – vorrangig auf eine privatrechtliche Anmietung angewiesen. [...]

38 (b) Das Anmieten einer Unterkunft scheitert auch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit an einem "Teufelskreislauf", der daraus bestehen soll, dass für eine Anmietung der Besitz gültiger Identitätspapiere erforderlich ist, deren Ausstellung ihrerseits aber von einem Wohnsitz abhängt und deshalb nicht erfolgt (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 103). Der diesbezügliche klägerische Vortrag, der sich im Wesentlichen auf einen Bericht der Asylinformationsdatenbank (AIDA) stützt, ist schon nicht ausreichend substantiiert. [...] Der AIDA-Bericht spricht lediglich davon, dass die Schutzberechtigten in der Praxis auf diesbezügliche "Schwierigkeiten stoßen" [...]. Abgesehen hiervon bestehen ferner keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der behauptete "Teufelskreislauf" überhaupt in dem für die Annahme einer Funktionsstörung notwendigen Umfang in allgemeiner Hinsicht besteht und es lässt sich weder dem Vortrag noch den sonstigen verfügbaren Erkenntnismitteln anderweitig entnehmen, dass die vorgetragenen Schwierigkeiten mit Folgen verknüpft sind – etwa zu einem faktischen Ausschluss vom Rechtsverkehr führen –, die eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh begründen könnten. [...]

39 Ungeachtet dessen sind jedenfalls etwaig bestehende Schwierigkeiten, wegen fehlender Wohnung keine amtlichen Identitätspapiere zu erhalten, nicht unüberwindbar. Es ist ausweislich der Erkenntnismittel möglich, dass Betroffene eine (Schein-)Meldeadresse erwerben. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) liegen die Preise bei EUR 350 bis 400 pro Person, wobei es auch Unterstützung gibt, diese Beträge aufzubringen [...].

40 (c) Aber auch wenn – gleich aus welchen Gründen – die Anmietung einer Unterkunft nicht gelingt, ist anerkannt Schutzberechtigten die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen – in einer den Anforderungen des Art. 4 GRCh genügender Weiser – sicher [...]. Diese Unterstützung besteht zwar nicht landesweit, ist in der Praxis aber offenbar dennoch wirksam. Die Erkenntnismittel enthalten keine Hinweise auf eine größere Zahl von Obdachlosen unter den anerkannt Schutzberechtigten [...]. Anzunehmen, dass die Unterbringung mit Hilfe der Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen regelhaft gelingt, ist auch deshalb plausibel, weil bereits die Zahl an Schutzsuchenden gering ist, denn die Aufnahmezentren für Asylsuchende sind nur wenig ausgelastet und weisen einen hohen Leerstand auf. [...]

41 (d) Jenseits der konkreten Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen können anerkannt Schutzberechtigte schließlich auch noch in zwei verschiedenen Arten von Notunterkünften unterkommen und damit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung entgehen. Es gibt sog. Zentren für die vorübergehende Unterbringung und sog. Notunterkünfte für Obdachlose. Zentren für die vorübergehende Unterbringung bieten bis zu drei Monate in einem Kalenderjahr eine Unterkunft; es besteht die Möglichkeit einer Verlängerung um weitere drei Monate. [...]. Notunterkünfte für Obdachlose stehen zumindest im Winter jeweils für eine Nacht zur Verfügung. [...] Die Unterbringung in einem staatlichen Obdachlosenheim, das allerdings nicht nur Flüchtlingen, sondern allen Bedürftigen offensteht, ist schließlich ebenfalls möglich, wenngleich sie nur wenig verfügbar sind und der Zugang mit hohen formalen Hürden verbunden ist [...].

42 bb) Die Gesamtsituation für Rückkehrer stellt sich insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen als schwierig dar und geht mit großen Herausforderungen einher. Sie ist aber nicht mit Belastungen verbunden, die es rechtfertigen, anzunehmen, dass die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind. [...]