OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.07.2023 - 11 A 2811/21.A (Asylmagazin 10-11/2023, S. 358 f.) - asyl.net: M31764
https://www.asyl.net/rsdb/m31764
Leitsatz:

Internationaler Schutzstatus in Bulgarien erlischt nicht automatisch:

1. Die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem EU-Mitgliedstaat gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet aus, wenn der Schutzstatus in diesem Mitgliedstaat erloschen ist.

2. Der internationale Schutzstatus erlischt in Bulgarien nicht automatisch, wenn ein Antrag auf Verlängerung abgelaufener Identitätspapiere nicht gestellt wird. Das gilt auch dann, wenn die schutzberechtigte Person über Jahre außerhalb Bulgariens lebt.

3. Beantragt eine Person mit internationalem Schutz in Bulgarien nicht rechtzeitig die Verlängerung ihrer Identitätspapiere, kann dort im Einzelfall ein Verfahren zur Aberkennung des internationalen Schutzes eingeleitet werden. Am Ende dieses Verfahrens kann es zu einer Entziehung des Schutzstatus kommen. Für die Annahme, dass der Schutzstatus in Bulgarien im Einzelfall entzogen worden ist, bedarf es konkreter Anhaltspunkte.

4. Arbeitsfähigen und gesunden international Schutzberechtigten droht in Bulgarien keine unverschuldete Verelendung entgegen Art. 4 GR-Charta. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Aberkennung, Verlust, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage, Entziehung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die Kläger beantragen schriftsätzlich sinngemäß, den Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 2017 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat ein Schreiben der bulgarischen State Agency for Refugees (SAR) vom 25. Mai 2023 vorgelegt, wonach der der Klägerin zu 1. am 9. August 2017 gewährte subsidiäre Schutz fortbesteht. [...]

a) Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

aa) Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzung ist erfüllt, da Bulgarien den Klägern am 9. August 2017 subsidiären Schutz zuerkannt hat.

Dieser Schutzstatus besteht auch fort. Für die Klägerin zu 1. hat der SAR dies mit Schreiben vom 25. Mai 2023 ausdrücklich mitgeteilt. Der subsidiäre Schutz ist der Klägerin zu 1. demnach auch rund fünfeinhalb Jahre, nachdem er erteilt wurde und die Kläger Bulgarien verlassen hat, nicht durch behördliche Entscheidung entzogen worden. Im Fall des Klägers zu 2., der gleichzeitig mit der Klägerin zu 1. subsidiären Schutz erhalten und Bulgarien verlassen hat, bestehen für eine Entziehung keine Anhaltspunkte.

Der in Bezug auf die Klägerin zu 1. übersandten Mitteilung entsprechende Auskünfte des SAR hat die Beklagte auch in weiteren bei dem beschließenden Senat anhängigen Verfahren vorgelegt. Dies bestätigt, dass die bulgarischen Behörden den gewährten Schutzstatus nicht gleichsam automatisch entziehen, sobald der Berechtigte seine Identitätspapiere eine bestimmte Zeit lang nicht hat verlängern lassen. Nach Art. 42 Abs. 5 des bulgarischen Gesetzes über das Asyl und die Flüchtlinge kann in Bezug auf einen Ausländer, dem internationaler Schutz gewährt worden ist und der keinen Antrag auf Verlängerung seiner - nach § 59 Abs. 1 des bulgarischen Gesetzes über Identitätspapiere im Fall von Flüchtlingsschutz fünf Jahre und im Fall von subsidiärem Schutz drei Jahre gültigen - Identitätspapiere einreicht, ein Verfahren zu Aberkennung oder Aufhebung des gewährten internationalen Schutzes eingeleitet werden, wenn der Ausländer nicht nachweisen kann, dass er seiner Obliegenheit, einen Antrag auf Verlängerung zu stellen, aus objektiven Gründen nicht nachgekommen ist. Der Senat folgt nicht der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, die unter dem 20. Januar 2022 ausgeführt hat, diese Regelung führe dazu, dass die bulgarische Asylbehörde regelmäßig die Ausweispapiere überprüfe und "automatisch" den Schutz derjenigen widerrufe, die ihre Dokumente über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten nicht hätten erneuern lassen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft an den Senat vom 20. Januar 2022, S. 2).

Vielmehr ist mit dem Auswärtigen Amt davon auszugehen, dass - wie im Falle der Klägerin zu 1. - auch sechs Monate nach Ablauf der Gültigkeitsdauer der Identitätspapiere keine "automatische" Entziehung des internationalen Schutzes erfolgt, sondern dass jeweils im Einzelfall die Aufnahme eines Verfahrens möglich ist, an dessen Ende die Entziehung des Schutzstatus stehen kann (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Senat vom 27. März 2023, S. 2 f.). [...]

2) Nach diesen Maßstäben droht den Klägern bei einer Rückkehr nach Bulgarien keine gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Ein vom Willen eines arbeitsfähigen und gesunden  Schutzberechtigten unabhängiger "Automatismus der Verelendung" bei einer Rückkehr nach Bulgarien ist nicht festzustellen.

Dabei ist nicht entscheidungserheblich, welche Behandlung die Kläger bei ihrem vorangegangenen bereits mehrere Jahre zurückliegenden Aufenthalt in Bulgarien erfahren hat, da - wie ausgeführt - auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch den Senat abzustellen ist (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 88). [...]

Mit Beschluss vom 15. Februar 2022 hat der Senat entschieden, dass international Schutzberechtigten in Bulgarien - auch unter Berücksichtigung der Folgen der Corona-Pandemie - keine Gefahrenlage drohte, die zu einem Verstoß gegen Art. 4 GRCh führte (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. Februar 2022 - 11 A 1625/21.A -, juris, Rn. 25 ff., 46 ff.).

An dieser Einschätzung hält der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage und in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht fest. Die Verhältnisse in Bulgarien haben sich für anerkannt Schutzberechtigte seit Februar 2022 - auch durch die seitdem zahlreich in Bulgarien aufgenommenen ukrainischen Flüchtlinge - nicht derart verschlechtert, dass dem Kläger als gesundem und arbeitsfähigen Mann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen eine Verelendung drohte [...].

Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Auskunft vom 8. Juli 2022 erwähnt, die Möglichkeit, den Aufenthalt im Aufnahmezentrum aus humanitären Gründen über die Zuerkennung des internationalen Schutzes hinaus zu verlängern, bestehe nicht für Personen, die das Land zwischenzeitlich verlassen hätten (vgl. SFH, Auskunft an den Senat vom 8. Juli 2022, S. 2), ist dies nicht durch Beispiele oder konkrete Zahlen obdachloser zurückgeführter Schutzberechtigter belegt und gibt - auch angesichts der Erkenntnislage im Übrigen - keinen Anlass zu weiterer Aufklärung. [...]

Damit ist - auch in Anbetracht bestehender Mängel - jedenfalls eine Minimalversorgung sichergestellt, die die elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") in der Regel befriedigt und eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt [...].

(b) Der Senat hat bereits entschieden, dass sich der bulgarische Arbeitsmarkt weder in Folge der Corona-Pandemie [...], noch durch die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge [...], derart verschlechtert hat, dass es international Schutzberechtigten nun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich wäre, in zumutbarer Zeit Arbeit zu finden und damit ihren Lebensunterhalt im Sinne des nach Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK gebotenen Existenzminimums selbstständig zu bestreiten.

Die bulgarische Wirtschaft erholt sich weiter und ist zunehmend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. [...]

Sprach- und Integrationskurse, die Drittstaatsangehörigen den Zugang zum bulgarischen Arbeitsmarkt erleichtern, werden zwar nicht staatlicherseits [...], aber von NGO, etwa dem Bulgarischen Roten Kreuz, der Caritas Sofia und IOM, angeboten [...].

Diese grundsätzlich auch für Drittstaatsangehörige positive Arbeitsmarktsituation wird durch die Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, im Jahr 2021 seien lediglich drei Personen mit internationalem Schutzstatus und zwei Personen im Asylverfahren als arbeitstätig gemeldet gewesen [...], nicht durchgreifend in Frage gestellt, denn über die Bemühungen der nicht arbeitstätigen Personen bei Integration und Arbeitssuche, die etwa aufgrund der Absicht, in ein anderes Land weiterzuziehen, eingeschränkt sein können, ist nichts bekannt.

(c) Diese Erkenntnisse zugrunde gelegt werden die Kläger in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Unterstützung bei der Integration, insbesondere beim Erlernen der bulgarischen Sprache, erhalten und in der Lage sein, nach einer Übergangszeit eine Arbeit aufzunehmen. [...]