VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 16.04.2024 - 11 K 357/24.A - asyl.net: M32345
https://www.asyl.net/rsdb/m32345
Leitsatz:

Erfolgreiche Untätigkeitsklage einer Person aus dem Gaza-Streifen:

1. Nach mehreren Monaten sich intensivierender Kämpfe ist eine vorübergehend ungewisse Lage gemäß § 24 Abs. 5 AsylG nicht mehr anzunehmen, sodass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über den Asylantrag der Person aus dem Gaza-Streifen zu entscheiden hat. Angesichts der dramatischen Lage und der großflächigen Zerstörungen im Gaza-Streifen ist nicht abzusehen, ob und wann sich die Lage dort verbessern sollte.

2. Insbesondere dient die Möglichkeit, eine Entscheidung gemäß § 24 Abs. 5 AsylG auszusetzen, nicht dazu, die Realisierung bestehender Anerkennungsansprüche - hier: auf Zuerkennung subsidiären Schutzes - zu verhindern.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Meiningen, Urteil vom 11.03.2024 - 2 K 65/24.A - asyl.net: M32255; VG Sigmaringen, Urteil vom 07.03.2024 - A 5 K 1560/22 - asyl.net: M32253)

Schlagwörter: Gaza-Streifen, Palästinenser, Untätigkeitsklage, subsidiärer Schutz, Aussetzung des Verfahrens, Aussetzen, ungewisse Lage,
Normen: AsylG § 24 Abs. 5, AsylG § 24 Abs. 4, VwGO § 75 Abs. 3, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Die Unterlassung, über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten [...].

Das Verfahren war nicht gemäß § 75 Satz 3 VwGO unter Bestimmung einer angemessenen Frist auszusetzen, weil ein zureichender Grund dafür, dass über den bereits am 1. Dezember 2020 gestellten Asylantrag des Klägers noch nicht entschieden wurde, nicht (mehr) vorliegt. [...]

Der Kläger ist zur Person und zur Sache angehört worden und die tatsächliche Lage im Gazastreifen ist hinreichend geklärt. Die Beklagte beruft sich vorliegend (sinngemäß) auf einen Aufschub der Entscheidung nach § 24 Abs. 5 AsylG. Besteht danach aller Voraussicht nach im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage, sodass eine Entscheidung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, kann die Entscheidung abweichend von den in § 24 Abs. 4 AsylG genannten Fristen aufgeschoben werden. Die Beklagte macht insoweit geltend, dass in Anbetracht der nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 insbesondere im Gazastreifen außerordentlich dynamischen, unübersichtlichen und schwer zu bewertenden Lage sowie der daraus resultierenden Schwierigkeit, die Rückkehrgefährdung mit der für eine Entscheidung von Asylverfahren gebotenen Belastbarkeit einzuschätzen, das Bundesamt die Voraussetzungen für eine Entscheidung davon betroffener Asylverfahren derzeit als nicht gegeben ansehe, wenn diese von Informationen zur Lage im Herkunftsland abhängig, also nicht bereits durch individuelle Umstände des jeweiligen Einzelfalls begründet seien.

Nach Auffassung des Gerichts ist allerdings schon eine vorübergehend ungewisse Lage nach mehreren Monaten sich intensivierender Kämpfe nicht mehr anzunehmen. Das Bundesamt geht offenbar selbst davon aus, dass es sich bei den Konflikten im Gazastreifen um eine anhaltende und damit nicht bloß vorübergehende Situation handelt. Insofern liegt zwar eine weiterhin hochdynamische Lage vor, deren weitere Entwicklung in Einzelheiten im Sinne von § 24 Abs. 5 AsylG ungewiss sein mag. Aus dieser Ungewissheit folgt indes nicht, dass eine Entscheidung in der Sache vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, denn der bewaffnete Konflikt hat längst ein Ausmaß erreicht, das den Anspruch auf internationalen subsidiären Schutz unabhängig von einzelnen Ereignissen trägt. Angesichts der dramatischen Lage, einhergehend mit großflächigen Zerstörungen, wie sie nahezu täglich Gegenstand der aktuellen Berichterstattung ist, ist nicht abzusehen, ob und wann sich die Lage im Gazastreifen signifikant verbessern sollte. Insbesondere konnte bisher trotz aller diplomatischen Bemühungen keine, wenn auch nur zeitweise, Befriedung des Konflikts erzielt werden. Dass dies in absehbarer Zeit anders sein könnte, ist nicht ersichtlich. Die von der Beklagten als dynamisch umschriebene und aufgrund der Berichterstattung vom Gericht als allgemein bekannt vorausgesetzte Lage im Gazastreifen dürfte vielmehr Grundlage einer zeitnahen Entscheidung durch die Beklagte sein. Umstände, die einer weiteren Aufklärung bedürfen, sind weder ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen.

Nach alledem dürften die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes durch das Bundesamt vorliegen (vgl. insoweit VG Berlin, Urt. v. 26. Februar 2024 - 34 K 5/23 A -, juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 7. März 2024 - A 5 K 1560/22 - juris). Die Aussetzung der Entscheidung wegen vorübergehender ungewisser Lage im Herkunftsstaat dient jedoch nicht dazu, die Realisierung absehbar bestehender Anerkennungsansprüche zu verhindern (vgl. Fränkel in: NK-AuslR, 3. Auflage 2023, Rn. 33 zu § 24 AsylG). [...]