VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 04.12.2023 - 4 K 1784/23 - asyl.net: M32268
https://www.asyl.net/rsdb/m32268
Leitsatz:

Vormundschaft steht Zuweisungsentscheidung in anderes Bundesland entgegen:

Einer Zuweisungsentscheidung gemäß § 50 Abs. 4 S. 1 AsylG gegenüber einer minderjährigen Person scheidet aus Gründen des Minderjährigenschutzes aus, wenn sie bedeutet, dass die betroffene Person ihren Aufenthaltsort verlassen muss, obwohl ihr an diesem ein Vormund bestellt wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Verteilungsverfahren, Vormundschaft,
Normen: AsylG § 50 Abs. 4 S. 1, AsylG § 50 Abs. 4 S. 5, AufenthG § 15a Abs. 1 S. 6, AsylG § 45, GG Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Bescheide der Beklagten vom 31.07.2023 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der Einzelrichter hat hierzu mit Beschluss vom 17.11.2023 (Az.: 4 V 1785/23) Folgendes ausgeführt:

"(...). Die Weiterleitungsentscheidungen der Antragsgegnerin erweisen sich nach dem Stand des Verfahrens als rechtswidrig.

Mit den Regelungen über die Verteilung trägt das Gesetz dem regelmäßig besonders gewichtigen öffentlichen Interesse Rechnung, die Lasten, die mit der Aufnahme von Asylbewerbern etwa hinsiechtlich Unterbringung, Verpflegung und Überwachung verbunden sind, gleichmäßig auf die Bundesländer und deren Landkreise und Kommunen zu verteilen (vgl. § 45 AsylG). Entsprechend haben Ausländer, die um Asyl nachsuchen, gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AsylG im Grundsatz keinen Anspruch darauf, sich an einem bestimmten Ort aufhalten zu dürfen, solange sie ein Asylverfahren in Deutschland durchführen. Eine einfachgesetzliche Bindung des Entscheidungsspielraums der Behörde enthält lediglich § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG, wonach die Behörde bei der Zuweisung die Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern berücksichtigen muss [...].

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass es den zuständigen Behörden auch in weiteren, über die gesetzliche Regelung des § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG hinausgehenden Fällen möglich sein muss, von einer Verteilung des  Asylbewerbers abzusehen. Ob insoweit die Regelung des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG analog heranzuziehen ist [...] oder ob über die Regelung des § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG hinaus in verfassungskonformer  Auslegung anzuerkennen ist, dass es hinsichtlich der Zuweisungsentscheidung auch dann zu einer Ermessensreduktion kommen kann, wenn im Einzelfall sonstige humanitäre Gründe vorliegen, die von vergleichbarem Gewicht sind wie die Erhaltung der Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern, und die es ausnahmsweise gebieten, das öffentliche Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung der Asylbewerber hinter dem Interesse an einer Zuweisung zu einer bestimmten Gemeinde zurücktreten zu lassen [...], kann vorliegend offenbleiben.

Im Fall der Antragsteller liegen sowohl analog § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG zwingende Gründe als auch sonstige humanitäre Gründe im Sinne der zitierten Rechtsprechung vor.

Der Weiterleltung der minderjährigen Antragstellerin zu 2) nach Schwerin steht entgegen, dass für sie mit Beschluss des Amtsgerichts Bremen – Familiengericht - vom 02.11.2023 gemäß § 1773 BGB ein Vormund in Bremen bestellt worden ist. Eine Weiterleitung der Antragstellerin zu 2), die zwar nicht nach § 42a Abs. 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommen wurde und somit nicht der (vorrangigen) Verteilung nach § 42b SGB VIII unterliegt, hat daher aus Gründen des Minderjährigenschutzes zu unterbleiben. Hieraus folgt unter dem Blickwinkel von Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK zugleich ein Weiterleitungshindernis hinsichtlich des Antragstellers zu 1)." [...]