Anspruch auf Aufhebung einer Abschiebungsandrohung im Rahmen eines Asylfolgeantrags wegen familiärer Belange:
1. Wird ein Asylfolgeantrag damit begründet, dass nunmehr im Inland familiäre Beziehungen bestehen (hier: Geburt zweier deutscher Kinder und Ausübung der elterlichen Sorge), ist der Asylfolgeantrag so auszulegen, dass gemäß § 51 VwVfG auch die Aufhebung der mit dem Asylerstbescheid verbundene Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbots begehrt wird. Nur in diesem Rahmen ist das Geltendmachen familiärer Beziehungen als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nämlich erfolgversprechend.
2. Angesichts der Rechtsprechung des EuGH, wonach bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] bei Erlass einer Abschiebungsandrohung familiäre Belange zu berücksichtigen hat und diese nicht erst in einem auf Duldung gerichteten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind, kann in einem solchen Fall ein Anspruch auf Widerruf der mit dem Asylerstbescheid ergangenen Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbots bestehen.
3. Dem steht nicht entgegen, dass das BAMF bei Ablehnung eines Asylfolgeantrags gemäß § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, keine neue Abschiebungsandrohung zu treffen. Denn bei einem entsprechenden Vortrag familiärer, inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse ist eine Überprüfung der mit dem Asylerstbescheid ergangenen Abschiebungsandrohung unionsrechtlich geboten.
4. Das BAMF ist hier verpflichtet, die Abschiebungsandrohung aufzuheben, da eine Abschiebung zur Trennung von Kläger und Kindern führen würde und schon eine kurzzeitige Trennung das Wohl der Kinder irreversibel beeinträchtigen und die notwendige Wahrnehmung elterlicher Sorge verhindern würde.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; so auch: VG Sigmaringen, Urteil vom 7.2.2024 - A 14 K 3041/21 - landesrecht-bw.de; entgegen: VG München, Beschluss vom 24.08.2023 - M 13 ES 21.32795 - bayern-recht.de; VG Magdeburg, Beschluss vom 27.07.2023 - 3 B 150/23 MD - landesrecht.sachsen-anhalt.de)
[...]
16 II. Die auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots gerichtete Klage ist zulässig (hierzu unter 1.) und begründet (hierzu unter 2.). [...]
19 Der Kläger hat mit seinem Asylfolgeantrag vom 6. bzw. 23. Mai 2022 konkludent auch einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts gestellt, über den die Beklagte keine Entscheidung getroffen hat. Zwar hat der anwaltlich vertretene Kläger mit dem Asylfolgeantrag nicht ausdrücklich einen zusätzlichen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG bzw. nach §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG bezüglich der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gestellt. Dennoch ist der Asylfolgeantrag entsprechend auszulegen.
20 Eine Auslegung des Erklärten ist auf das Ziel gerichtet, den Willen des Erklärenden zu ermitteln. [...] Der Kläger hat in der Begründung seines Asylfolgeantrags ausdrücklich ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis dargelegt, nämlich die Beziehung zu seinen deutschen Kindern, die nach dem Erlass des Asylerstbescheides geboren wurden. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris) betont, dass nach Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie des Europäischen Parlaments (Richtlinie 2008/115/EG) familiäre Belange sowie das Wohl des Kindes bei Erlass einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen sind bzw. auch zuvor zu berücksichtigen waren. [...] Für den Kläger war die dogmatische Frage unerheblich, ob die Beklagte die Beziehung zu seinen Kindern in einem Asylfolgeverfahren oder in einem sonstigen Wiederaufnahmeverfahren berücksichtigt, solange das Bundesamt diesen Aspekt einbezieht und ihn vor der Abschiebung schützt. Dementsprechend kann das Begehren des abgelehnten Asylbewerbers interessengerecht nur so verstanden werden, dass er im Zweifel die Überprüfung sämtlicher Bestandteile des ablehnenden, bestandskräftigen Asylerstbescheides begehrte und dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Vortrag im Hinblick auf die relevante Regelung im Asylerstbescheid zu würdigen hat. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Asylfolgeverfahren (im engeren Sinne) angesichts des neuen Vortrags wenig erfolgversprechend war. [...]
22 Relevant ist ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis stattdessen im Rahmen der Abschiebungsandrohung. Die Überprüfung der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung kann zum einen im Rahmen des § 71 Abs. 4 und Abs. 5 AsylG erfolgen, wenn über den Erlass einer neuen Abschiebungsandrohung entschieden wird. In diesem Rahmen wäre auch die Aufhebung der zuvor erlassenen Abschiebungsandrohung von Amts wegen denkbar. Darüber hinaus kann ein isolierter Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. auf Widerruf einer bestandkräftigen Abschiebungsandrohung wegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses im Lichte der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfolgversprechend sein (vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 7.2.2024, A 14 K 3041/21, juris Rn. 33; VG München, Beschl. v. 24.8.2023, M 13 ES 21.32795, beck-online Rn. 44). Vor diesem Hintergrund ist ein Asylfolgeantrag, in dem familiäre Bindungen im Bundesgebiet dargelegt werden, interessengerecht auch als ein solcher Antrag auszulegen (VG München, a.a.O., Rn. 64). [...]
24 2. Die Verpflichtungsklage auf Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Bescheid vom 26. November 2015 ist auch begründet, da die Verweigerung durch die Beklagte rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null ist die Sache spruchreif im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, sodass eine Entscheidung über den Hilfsantrag auf Neubescheidung obsolet ist.
25 Die Vorschriften zur isolierten Wiederaufnahme eines Verfahren nach §§ 51, 48, 49 VwVfG sind auf die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot anwendbar und die Beklagte ist passivlegitimiert (hierzu unter a). Dahinstehen kann, ob der Kläger einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG in Bezug auf die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot besitzt (hierzu unter b)). Jedenfalls besitzt er einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Ermessenswege nach §§ 51 Abs. 5, 49 Abs. 1 VwVfG (hierzu unter c)).
26 a) Da die Abschiebungsandrohung bereits zuvor nach nationalem Recht als anfechtbarer Verwaltungsakt und nicht als reine Vollstreckungsmaßnahme angesehen wurde (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 1.11.2006, 3 Bs 126/05, juris Rn. 17) und dies erst recht gilt, wenn sie nach unionsrechtlichem Verständnis als Rückkehrentscheidung eine materielle Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse beinhaltet, sind die Vorschriften der §§ 51, 48, 49 VwVfG zum Wiederaufgreifen des Verfahrens und zur Aufhebung von Verwaltungsakten unmittelbar auf die Abschiebungsandrohung und ohnehin auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot anwendbar.
27 Es ist auch nicht systemwidrig bzw. durch die Spezialität der Regelungen zum Asylfolgeantrags gemäß § 71 AsylG ausgeschlossen, ein isoliertes Wiederaufgreifensverfahren unabhängig von einem Asylfolgeverfahren nach § 71 AsylG durchzuführen. [...]
28 Das Gericht teilt nicht die Auffassung der Beklagten, die nachträgliche Aufhebung einer Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei auch bei geänderter Sachlage, d.h. nach der Geburt deutscher Kinder nicht möglich, wenn im Asylfolgebescheid keine neue Abschiebungsandrohung getroffen wurde (ebenso VG Magdeburg, Beschl. v. 27.7.2023, 3 B 150/23 MD, juris Rn. 3). Zum einen kann ein isolierter Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. auf Widerruf der Abschiebungsandrohung auch unabhängig von einem Asylfolgeantrag gestellt werden (vgl. VG Sigmaringen, a.a.O.), so dass nur die bestandskräftige Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot zum Streitgegenstand werden. So ist es hier nach der Klageänderung geschehen. Auf diesen Streitgegenstand wirken sich asylverfahrensrechtliche Vorgaben zum Erlass einer Abschiebungsandrohung bei einem Folgeantrag nicht aus. Zum anderen wäre, sofern der Asylfolgebescheid Streitgegenstand wäre, zu überprüfen, ob das Bundesamt im Asylfolgebescheid in rechtmäßiger Weise vom Erlass einer neuen Abschiebungsandrohung abgesehen und die frühere Abschiebungsandrohung aufrechterhalten hat. Dies wäre bei neuem Vorbringen zu inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen mehr als fraglich. Denn die Vorschrift des § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG erlaubt durch die Formulierung "bedarf es zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung oder -anordnung" nach dem Verständnis des Gerichts der Beklagten lediglich, im Asylfolgeverfahren von einer neuen Abschiebungsandrohung abzusehen, die nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG bei der Nichtfeststellung von Abschiebungshindernissen möglich wäre. Die Vorschrift des § 34 AsylG wird jedoch ausdrücklich auch für erfolglose Folgeanträge gemäß § 71 Abs. 4 AsylG für anwendbar erklärt. Hierfür bestünde bei einem zwingenden Ausschluss der Abschiebungsandrohung bei Nichtdurchführung eines Asylfolgeverfahrens keine Veranlassung. Vor diesem Hintergrund zwingt § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG die Beklagte nicht dazu, von einer neuen Abschiebungsandrohung abzusehen und die bisherige aufrechtzuerhalten, sondern stellt diese Entscheidung in das Ermessen des Bundesamtes (ebenso Dickten, BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 40. Edition Stand: 1.10.2023, § 71 Rn. 30). Insbesondere verbietet diese Vorschrift nicht die unionsrechtlich gebotene erneute Überprüfung einer erlassenen Abschiebungsandrohung bei entsprechendem Vortrag. [...] Denn die Beklagte kann sich bei einem Antrag, in welchem auf neue inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse hingewiesen wird, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der das Gericht folgt, nicht dadurch der Überprüfung der Abschiebungsandrohung entziehen, indem sie gemäß § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG im Asylfolgebescheid dazu entscheidet, keine neue Abschiebungsandrohung zu erlassen und die Berücksichtigung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse weiterhin der Ausländerbehörde zu überlassen. Ihre Auffassung, sie sei nach nationalem Recht berechtigt, im Asylfolgeverfahren keine neue Abschiebungsandrohung zu erlassen und auch nicht gehalten, auf entsprechendes Vorbringen die zuvor erlassene Abschiebungsandrohung zu überprüfen und gegebenenfalls aufzuheben, perpetuiert die für rechtswidrig erklärte Rechtslage zu Lasten des Klägers und unterläuft in rechtswidriger Weise unionsrechtlichen Vorgaben (ebenso im Ergebnis VG Düsseldorf, Beschl. v. 9.2.2024, 24 L 122/24.A, juris Rn. 14). Denn der Automatismus, dass die von der Beklagten erlassene Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG ohne materielle Prüfung des Art. 5 der Rückführungsrichtlinie regelmäßig der Ablehnung eines Asyl- oder Asylfolgeantrags folgt, wobei inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse (lediglich) von der Ausländerbehörde auf der Vollzugsebene berücksichtigt wurden, wurde vom Europäischen Gerichtshof, der diese als Rückkehrentscheidung ansieht (ebenso BVerwG, Urt. v. 16.2.2022, 1 C 6.21, juris, Rn. 41, 45 und 56 m. w. N.) ausdrücklich als rechtswidrig bewertet (ebenso OVG Weimar, Beschl. v. 7.6.2023, 4 EO 626/22, juris Rn. 13). Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris Rn. 25-27) ausgeführt:
29 "Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C-82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104). [...]
32 Durch eine Verpflichtung, bestandskräftige Abschiebungsandrohungen beim Vortrag neuer inlandsbezogener Abschiebungshindernisse zu überprüfen, würde die Beklagte auch nicht überfordert werden. Auch nach der oben zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 bedarf nicht jede getroffene Rückkehrentscheidung einer Überprüfung; die jeweiligen Adressaten haben ihre relevanten Belange geltend zu machen. In einem solchen Fall – wie hier - hält das Gericht es im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung für geboten, einem ausreisepflichtigen Drittstaatler, zu dessen Lasten bereits eine bestandskräftige Abschiebungsandrohung der Beklagten auf Grundlage des § 34 AsylG ergangen ist, die Möglichkeit zu eröffnen, nachträglich Belange im Sinne des Art. 5 der Rückführungsrichtlinie geltend machen zu können (ebenso OVG Weimar, Beschl. v. 7.6.2023, 4 EO 626/22, juris Rn. 20).
33 Das Gericht stellt sich somit ausdrücklich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts München im Beschluss vom 24. August 2023 (M 13 ES 21.32795, beck-online Rn. 69), wonach auch bei einer Veränderung der Sach- und Rechtslage und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Korrektur der getroffenen, bestandskräftigen Abschiebungsandrohungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung nicht in Betracht kommen soll und in diesen Fällen die familiären Belange weiterhin durch eine ausländerrechtliche Duldung berücksichtigt werden sollen. Diese Rechtsauffassung widerspricht ausdrücklich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und es kann der oben zitierten Entscheidung nicht entnommen werden, dass die beschriebenen Anforderungen an die Rückkehrentscheidung nach Art. 5 der Rückführungsrichtlinie nur in Asylerstverfahren gelten sollen, nicht aber bei Wiederaufnahmeanträgen. Denn das Bundesamt ist auch nach dem Erlass der Rückkehrentscheidung bis zum Stadium der Abschiebung verpflichtet, die Rechtmäßigkeit seiner Abschiebungsandrohung auch nach deren Bestandskraft weiterhin zu überprüfen (VG Sigmaringen, Urt. v. 7.2.2024, A 14 K 3041/21, juris Rn. 34 unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 14.1.2021, C-441/19, juris Rn. 49 ff., 54). [...]
35 b) Offen bleiben kann, ob der Kläger bezüglich der Abschiebungsandrohung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG besitzt. Zwar hat er mit der Geburt seiner beiden deutschen Kinder nach Abschluss des Asylerstverfahrens Umstände geltend gemacht, die ein bei der Rückführungsentscheidung zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis begründen, sodass die Anforderungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 VwVfG erfüllt sein dürften. Jedoch hat er den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens deutlich nach Ablauf der Drei-Monats-Frist gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt, da sein ältester deutscher Sohn bereits am ... 2019 geboren wurde und er den Antrag bei der Beklagten erst im Mai 2022 gestellt hat. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 9.9.2021, C-18/20, juris Rn. 54 ff.) eine Ausschlussfrist in Bezug auf Asylfolgeantrag im Hinblick auf Art. 40 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie unzulässig. Allerdings ist fraglich, ob dieser Ausschluss auch für einen Anspruch auf Aufhebung einer Rückführungsentscheidung gilt, auf die sich das Asylfolgeverfahren, wie bereits oben dargestellt, inhaltlich nicht bezieht.
36 c) Jedenfalls kann der Kläger die Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots aus dem Bescheid vom 26. November 2015 nach § 51 Abs. 5 in Verbindung mit § 49 Abs. 1 VwVfG beanspruchen. Ein Anspruch auf Rücknahme gemäß § 48 VwVfG dürfte ausscheiden, da die Abschiebungsandrohung zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig war und es sich hierbei nicht um eine Maßnahme mit Dauerwirkung handeln dürfte (OVG Hamburg, Beschl. v. 1.11.2006, 3 Bs 126/05, juris Rn. 27). Gemäß § 49 Abs. 1 VwVfG kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Es bestehen keine Bedenken gegen die Anwendung des § 49 VwVfG auch auf rechtswidrige Verwaltungsakte, die nach § 48 VwVfG nicht zurückgenommen werden können (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, a.a.O., § 49 Rn. 12).
37 Das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 1 VwVfG steht im Ermessen der Behörde. [...] Das Gebot der materiellen Gerechtigkeit begründet jedoch ausnahmsweise den Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen belastenden Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist [...].
38 Im vorliegenden Fall ist die Abschiebungsandrohung unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben offensichtlich rechtswidrig (hierzu unter aa); dasselbe gilt nach nationalem Recht für das Einreise- und Aufenthaltsverbot (hierzu unter bb). Vor diesem Hintergrund ist das Ermessen der Beklagten zur Wiederaufnahme des Verfahrens und zur Aufhebung dieser Regelungen auf Null reduziert.
39 aa) Die getroffene, auf § 34 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung verstößt zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegen vorrangiges Unionsrecht, nämlich gegen Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG). Diese Vorschriften verlangen, wie bereits dargestellt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen bereits im Rahmen einer Rückkehrentscheidung zu schützen. Hierbei ist unerheblich, ob sich die Rückkehrentscheidung gegen das Kind selbst oder gegen ein Elternteil richtet [...]. Denn Art. 5 Buchst. b RL 2008/115/EG schützt familiäre Bindungen allgemein und unterscheidet nicht zwischen solchen von Kindern und Erwachsenen.
40 Die danach gebotene Berücksichtigung der familiären Bindungen des Klägers zu seinem fünfjährigen deutschen Sohn und seiner fast dreijährigen deutschen Tochter steht dem Erlass der Abschiebungsandrohung im hier zu beurteilenden konkreten Einzelfall entgegen. [...]
42 Nach diesen Maßstäben ist das Gericht aufgrund des schriftsätzlichen Vortrags und des persönlichen Eindrucks des Klägers und der Zeugin A davon überzeugt, dass der Kläger trotz der zwischenzeitlichen Trennung von der Ehefrau und Kindsmutter zu beiden Kindern durchgehend sein Personensorgerecht ausgeübt und zu beiden Kindern ein inniges, intensives Vater-Kind-Verhältnis gepflegt hat und pflegt, das zu einer engen Verbundenheit zwischen ihm und seinen Kindern geführt hat. [...]
43 Eine Abschiebung des Klägers würde eine Trennung von seinen mit fünf und noch nicht drei Jahren noch kleinen Kindern, mit denen er durchgehend eine familiäre Lebensgemeinschaft geführt hat und mit denen er inzwischen wieder in häuslicher Gemeinschaft lebt, nach sich ziehen. Diese entspräche nach den obigen Maßstäben nicht ihrem Wohl, weil sie auf die umfassende Betreuung, Fürsorge und Pflege auch durch den Kläger angewiesen sind. Eine auch nur vorübergehende Trennung etwa zur Durchführung eines Visumverfahrens, dessen Dauer voraussichtlich mehrere Monate in Anspruch nehmen würde [...], würde das Wohl der beiden Kinder irreversibel beeinträchtigen und die notwendige Wahrnehmung der elterlichen Sorge durch den Kläger massiv verhindern. [...]
45 c) Damit ist auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids vom 26. November 2015, das für den Fall der Abschiebung greift, offensichtlich rechtswidrig und von der Beklagten aufzuheben. [...]