VG Stade

Merkliste
Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 09.02.2023 - 2 A 868/20 - asyl.net: M32257
https://www.asyl.net/rsdb/m32257
Leitsatz:

Unverzüglicher Asylantrag bei Familienschutz setzt keine formelle Antragstellung voraus:

Für die Frage, ob ein Asylantrag gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG unverzüglich, d.h. regelmäßig innerhalb von zwei Wochen nach der Einreise gestellt wurde, bedarf es keiner formellen Antragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ausreichend ist vielmehr jedes Schutzersuchen, das in der Sache einen Asylantrag umschreibt, gegenüber einer für die Registrierung von Asylanträgen zuständigen Behörde (hier: Ausländerbehörde).

(Leitsätze der Redaktion; BVerwG, Urteil vom 25.11.2021 - 1 C 4.21 (Asylmagazin 3/2022, S. 90 ff.) - asyl.net: M30314)

Schlagwörter: Familienschutz, Unverzüglichkeit, Asylantrag, Ausländerbehörde, Schutzersuchen,
Normen: AsylG § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 13 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedoch aus abgeleitetem Recht nach den Grundsätzen über den internationalen Schutz für Familienangehörige nach § 26 Abs. 5 in Verbindung mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG beanspruchen.

Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist, die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und die antragstellende Person die Personensorge für den Asylberechtigten innehat. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Der Kläger kann seine Anerkennung in Ableitung von der Flüchtlingsanerkennung seines ... geborenen Sohnes ... verlangen. Dessen mit Bescheid vom … 2016 erfolgte Anerkennung ist unanfechtbar.

Der Familienverband hat auch im Irak schon bestanden. Dies ergibt sich aus den Angaben von ... und folgt aus dessen Alter vor seiner Ausreise. In Frage gestellt wird dies von der Beklagten nicht.

Der Kläger ist zwar nach der Einreise seines Sohnes im ... 2017 nach Deutschland gekommen. Er hat seinen Asylantrag aber unverzüglich nach der Einreise gestellt. Nach der Rechtsprechung des BVerwG [...] ist unverzüglich (vgl. § 121 BGB) in diesem Sinne im Interesse einer raschen Integration der Familie und der Vereinfachung des Verfahrens grundsätzlich eine Antragstellung innerhalb einer Frist von zwei Wochen; dies gilt auch für die hier interessierende Frage des "Familienasyls" regelmäßig dann, wenn sich nicht auf Grund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte bzw. musste [...]. Diese Frist hat der Kläger eingehalten.

Dem steht der vorgelegte Verwaltungsvorgang des Bundesamtes nicht entgegen. Zwar "beginnt" dieser mit einem EURODAC-Ergebnis, sodann folgt ein INPOL-Ergebnis vom ... 2019, obwohl das Bundesamt ausweislich des angegriffenen Bescheides von einer Antragstellung erst danach, nämlich am ...  2019 ausgeht. Auch das frühere Datum - an diesem Tage hat eine erkennungsdienstliche Behandlung stattgefunden - ist hier nicht maßgeblich (das spätere ohnehin nicht, weil die Akte nicht vor einem Antrag angelegt worden sein kann). Maßgeblich ist vielmehr der ... 2017. An diesem Tag hat der Kläger ausweislich des Verwaltungsvorgangs der zuständigen Ausländerbehörde bei dieser - mit seiner Frau und seinen Kindern, soweit mit ihm eingereist - vorgesprochen und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt. Gleichzeitig haben der Kläger (und seine Familie, was dem Gericht im Parallelverfahren nicht bekannt war) einen Asylantrag gestellt, denn in dem Vorgang findet sich ein von dem Sachbearbeiter der Behörde aufgenommenes und "Asylantrag" überschriebenes Schriftstück; dieses ist unter Benennung von Namen und Aktenzeichen des Verfahrens von ... in Briefform ausgestaltet, an das Bundesamt in Bremen gerichtet und mit einem handschriftlichen "Ab-Vermerk" versehen. Dies ist für die Annahme eines Asylantrages ausreichend, wie sich aus der Rechtsprechung des BVerwG ergibt. Das Gericht hat (mit Urteil vom 25. November 2021 – 1 C 4.21 –, BVerwGE 174, 177-190; juris) ausgeführt:

"Ein Asylantrag ist im Sinne von § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt, wenn ein Schutzersuchen bei einer für dessen Registrierung zuständigen Behörde oder einer Behörde, bei der ein solches wahrscheinlich gestellt wird, formlos angebracht wird. Ausreichend ist mithin der in § 13 Abs. 1 AsylG umschriebene Asylantrag im materiellen Sinne. [...]"

Das bedeutet, dass Schutzantrag in diesem Sinne jede Bekundung gegenüber einer für die Registrierung von Asylanträgen zuständigen Behörde oder bei einer anderen Behörde, internationalen Schutz erlangen zu wollen, ist (so Berlit, jurisPR-BVerwG 7/2022 Anm. 1 zu 1 C 4.21). Ausgehend von der Einreise am ... (S. 1 des Bescheides) hat der Kläger mit dem Antrag vom ... 2017 die 2-Wochen-Frist gewahrt. Auf den Umstand, dass die Frist aufgrund des dem Kläger erteilten Visums zur Familienzusammenführung ohnehin länger gewesen wäre [...], kommt es hier nicht mehr an.

Der Kläger hatte auch noch die Personensorge für seinen Sohn inne. Insoweit ist der für die Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers [...]. Der Sohn ist allerdings erst am ... 2017 und damit nach der Antragstellung volljährig geworden. Anhaltspunkte dafür, dass dessen Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen oder zurückzunehmen ist, bestehen nicht. [...]