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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.11.2021 - 1 C 4.21 (Asylmagazin 3/2022, S. 90 ff.) - asyl.net: M30314
https://www.asyl.net/rsdb/m30314
Leitsatz:

Familienschutz für Angehörige einer volljährig gewordenen Schutzberechtigten:

1. Die Qualifikationsrichtlinie steht der Gewährung von Familienschutz an Angehörige von international Schutzberechtigten als günstigere nationale Norm nicht entgegen (sog. Günstigkeitsprinzip aus Art. 3 QRL, unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.11.2021 - C-91/20 - LW gg. Deutschland - asyl.net: M30149). Auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Angehörige, denen bereits subsidiärer Schutz gewährt wurde, ist mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar.

2. Für die Beurteilung der Minderjährigkeit der stammberechtigten Person, wenn sie selbst als Minderjährige einen Asylantrag gestellt hat, kommt es auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung der Angehörigen an, nicht auf den der letzten Entscheidung über den Familienschutzantrag (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994). Dies gilt auch für die Beurteilung der Ledigkeit der stammberechtigten Person und der Personensorge. Ein Asylantrag ist i.S.v. § 26 Abs. 5 S. 1 und S. 2 i.V.m. Abs. 3 S. 1 AsylG gestellt, wenn das Schutzersuchen formlos bei der zuständigen oder wahrscheinlich zuständigen Behörde gestellt wird.

3. Weder für die Eigenschaft als "Familienangehörige" nach Art. 2 Bst. j QRL noch für die Gewährung von Familienschutz nach § 26 AsylG ist es Voraussetzung, dass die Familienmitglieder das Familienleben mit der stammberechtigten Person im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich wiederaufnehmen (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994).

4. Auch die Erstreckung des Familienschutzes auf Angehörige, die nicht unter den Begriff "Familienangehörige" nach Art. 2 Bst. j QRL fallen (hier: minderjährige Geschwister der Stammberechtigten), ist mit Unionsrecht vereinbar, wenn sie dem Schutz der Familieneinheit dient.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienschutz, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Asylgesuch, förmlicher Asylantrag, förmliche Antragstellung, Asylantrag, familiäre Lebensgemeinschaft, minderjährig, Beurteilungszeitpunkt, Qualifikationsrichtlinie, Ledigkeit, ledig, Sorgerecht, EuGH, Unionsrecht, Günstigkeitsprinzip, Familienangehörige, Wiederaufnahme des Familienlebens, Familienleben, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Familienlebens,
Normen: AsylG § 13, AsylG § 14, AsylG §26 Abs. 4 S. 2, AsylG § 26 Abs. 5 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5 S. 2, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, AsylG § 26 Abs. 3 S. 2, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. k, RL 2011/95/EU Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 12, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 24 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 24. Abs. 2,
Auszüge:

[...]

7 Die Revision der Kläger hat Erfolg. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Kläger zu 1 und 2 und die Kläger zu 3 und 4 hätten keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Eltern (1.) bzw. als minderjährige ledige Geschwister (2.) eines minderjährigen ledigen Flüchtlings, verletzt insoweit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), als das Berufungsgericht für die Beurteilung der Minderjährigkeit und Ledigkeit der international Schutzberechtigten und das Innehaben der Personensorge im Sinne von § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG rechtsfehlerhaft den Zeitpunkt der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts zugrunde gelegt hat. [...]

9 1. Den Klägern zu 1 und 2 ist die Flüchtlingseigenschaft - nach der im Revisionsverfahren nicht angegriffenen Würdigung des Oberverwaltungsgerichts - nicht schon aus individuellen, in ihrer Person selbst liegenden Gründen (aus "eigenem Recht"), so doch in ihrer Eigenschaft als Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 Alt. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG mit Blick auf dessen Schutzberechtigung (aus "abgeleitetem Recht") zuzuerkennen. § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 Alt. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG steht in Einklang mit Unionsrecht (1.1). Seine Voraussetzungen werden durch die Kläger zu 1 und 2 erfüllt (1.2). [...]

11 § 26 AsylG dient der Erfüllung der aus der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) (im Folgenden: RL 2011/95/EU) und insbesondere deren Art. 23 Abs. 1 gründenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, aufrechterhalten werden kann (vgl. BT-Drs. 17/13063 S. 21 und EuGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 [ECLI:EU:C:2021:898], LW - Rn. 43). Zwar fordert die Richtlinie 2011/95/EU die in § 26 AsylG normierte Erstreckung des internationalen Schutzes auf Familienangehörige nicht (a). Sie steht indes, wie aus Art. 3 RL 2011/95/EU folgt, einer mit dieser Richtlinie vereinbaren günstigeren nationalen Norm zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder als Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, auch nicht entgegen (b). [...]

16 aa) Gemäß Art. 3 RL 2011/95/EU können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Nach Erwägungsgrund 14 RL 2011/95/EU sollten die Mitgliedstaaten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschn. A GFK oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist. Die Vereinbarkeit der günstigeren Norm mit der Richtlinie 2011/95/EU setzt voraus, dass diese Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährdet. Verboten sind insbesondere solche Normen, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (EuGH, Urteile vom 18. Dezember 2014, C-542/13 [ECLI:EU:C:2014:2452], M‘Bodj - Rn. 42 und 44, vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 - Rn. 71 und vom 9. November 2021- C-91/20 - Rn. 40).

17 Ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes liegt vor, wenn die Flüchtlingseigenschaft einer Person automatisch auf einen Angehörigen ihrer Kernfamilie mit dem Ziel erstreckt wird, es der Schutzberechtigten zu ermöglichen, die Einheit ihrer Kernfamilie, welche für sie ein unentbehrliches Recht darstellt, aufrechtzuerhalten. Eine solche automatische Erstreckung des internationalen Schutzes im Wege der Ableitung trägt dem Gebot, den Familienverband zu wahren, unabhängig davon Rechnung, ob der Angehörige der Kernfamilie selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes erfüllt (EuGH, Urteile vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 Rn. 72 f. und vom 9. November 2021 – C-91/20 - Rn. 41 ff.). Sie ist zudem nicht auf solche Familienangehörige beschränkt, die von Art. 2 Buchst. j RL2011/95/EU erfasst sind, sondern kann auch weitere Mitglieder der Kernfamilie, so im Aufnahmemitgliedstaat geborene Kinder (EuGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 - Rn. 44) erfassen. Nichts anderes kann dann für Geschwisterkinder gelten, soweit deren Einbeziehung dem Schutz der Einheit der Kernfamilie zu dienen bestimmt ist.

18 Eine Gefährdung der allgemeinen Systematik oder der Ziele der Richtlinie 2011/95/EU ist auch nicht für den Fall anzunehmen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung solche Angehörige der Kernfamilie des Flüchtlings begünstigt, denen bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde. Zwar wäre es dem Flüchtling möglich, den Familienverband mit diesen Angehörigen kraft ihres Schutzstatus und des hieraus erwachsenden Aufenthaltsrechts aufrechtzuerhalten. Der nationale Gesetzgeber war indes nicht gehindert, die Zielsetzung der Richtlinie 2011/95/EU, die Einheit der Kernfamilie des Flüchtlings zu festigen, weitergehend durch die Herbeiführung der Einheit des schutzrechtlichen Status zu realisieren. Dies gilt umso mehr, als die Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft der in Art. 2 Buchst. e und f wie auch in den Art. 9 ff. und 15 ff. RL 2011/95/EU zum Ausdruck gelangenden Differenzierung zwischen dem Flüchtlings- und dem subsidiären Schutzstatus zur Durchsetzung verhilft, dabei dem Umstand gerecht wird, dass der subsidiäre Schutzstatus gemäß Art. 2 Buchst. f RL 2011/95/EU gerade voraussetzt, dass der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, mithin den Vorrang der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beachtet und zudem den im Unionsrecht (vgl. Art. 24 Abs. und 2 RL 2011/95/EU) fortbestehenden und im deutschen Recht nachvollzogenen (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 3 und 4 i.V.m. § 9 AufenthG) Abweichungen in der Rechtsstellung des Flüchtlings und des subsidiär Schutzberechtigten Rechnung trägt. [...]

23 Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern (a) eines minderjährigen (b) ledigen (c) Flüchtlinge auf Antrag als Flüchtlinge anerkannt, wenn 1. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar ist (a), 2. die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Flüchtling politisch verfolgt wird (a), 3. sie vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben (a), 4. die Anerkennung des Flüchtlings nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (a) und 5. sie die Personensorge für den Flüchtling innehaben (d). Einer tatsächlichen Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil und dem Stammberechtigten bedarf es nicht (e). [...]

25 b) Für die Minderjährigkeit des international schutzberechtigten Stammberechtigten im Sinne von § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG ist bei dessen Antragstellung als Minderjähriger auf den Zeitpunkt der Antragstellung des antragstellenden Elternteils abzustellen (aa), nicht auf den Zeitpunkt der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts (so noch - unter Verletzung von Bundesrecht <§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO> - die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts). Der Asylantrag im Sinne des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG ist dabei bereits dann gestellt, wenn ein Schutzersuchen bei einer für dessen Registrierung zuständigen Behörde oder einer Behörde, bei der ein solches wahrscheinlich gestellt wird, formlos angebracht wird (bb); es bedarf hierfür nicht des förmlichen Asylantrages im Sinne des § 14 AsylG. [...]

27 Diese unionsrechtliche Determinierung des Begriffs der Minderjährigkeit des Schutzberechtigten bindet seine Auslegung maßgeblich an die hierzu ergehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Danach ist Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU in der gesamten Europäischen Union unter Berücksichtigung insbesondere des Kontexts der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels autonom und einheitlich auszulegen (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 [ECLI:EU:C:2021:709], SE - Rn. 34 f.). Hierbei ist dem Recht auf Achtung des Familienlebens besondere Bedeutung beizumessen. So heben in Anlehnung an Art. 24 Abs. 2 und 3 GRC die Erwägungsgründe 16 und 18 RL 2011/95/EU in besonderer Weise das Wohl des Kindes hervor, das bei sämtlichen Kinder betreffenden Maßnahmen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie eine vorrangige Erwägung darstellen muss (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 - Rn. 36 ff. und 44). Im Lichte dessen hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, aus dem internationalen Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, das Recht auf die in den Art. 24 bis 35 RL 2011/95/EU genannten Leistungen oder auf den Schutzstatus selbst ableiten will, sofern dies im Einklang mit Art. 3 RL 2011/95/EU im nationalen Recht vorgesehen ist, für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, "minderjährig" im Sinne von Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU ist, bei der Entscheidung über den von ihrem Elternteil gestellten Asylantrag der Zeitpunkt der Stellung des Schutzantrags sowohl der Bezugsperson als auch des Elternteils maßgebend ist (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 - Rn. 42 f.). Sowohl der international Schutzberechtigte als auch dessen Elternteil müssen ihre jeweiligen Schutzanträge daher zu einem Zeitpunkt gestellt haben, in dem der international Schutzberechtigte noch minderjährig im Sinne von Art. 2 Buchst. k RL 2011/95/EU war (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/ 19 - Rn. 43). Ein Abheben auf einen späteren Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit stünde weder mit den Art. 7 und 24 GRC noch mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 - Rn. 40 f.) noch mit dem effet utile in Einklang.

28 bb) Ein Asylantrag ist im Sinne von § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt, wenn ein Schutzersuchen bei einer für dessen Registrierung zuständigen Behörde oder einer Behörde, bei der ein solches wahrscheinlich gestellt wird, formlos angebracht wird. Ausreichend ist mithin der in § 13 Abs. 1 AsylG umschriebene Asylantrag im materiellen Sinne. Auch dies folgt aus einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU entschieden hat, dass für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen sei und dass hierfür die formlose Einreichung des Asylersuchens genüge. Denn ein Asylantrag sei nach der Richtlinie 2013/32/EU bereits dann "gestellt", wenn ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser bei einer für die Registrierung von Asylanträgen zuständigen Behörde oder bei einer anderen Behörde, bei der ein derartiger Antrag wahrscheinlich gestellt wird, seine Absicht bekundet, internationalen Schutz zu beantragen (vgl. EuGH, Urteile vom 9. September 2021 - C-768/19, SE - Rn. 45 ff. und vom 25. Juni 2020 - C-36/20 [ECLI:EU:C:2020:495], PPU - Rn. 86 ff.). [...]

30 c) Die Ledigkeit des international Schutzberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ebenfalls im Zeitpunkt der Asylantragstellung im Sinne der Einreichung des Schutzersuchens sowohl des Schutzberechtigten als auch seines Elternteils zu beurteilen. [...]

33 d) § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG ist im Einklang mit Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 -) dahin auszulegen, dass auch die Frage, ob der Elternteil die Personensorge für den international Schutzberechtigten innehat, bezogen auf den Zeitpunkt der jeweiligen Einreichung des Schutzersuchens zu beurteilen ist.

34 Zwar mögen der Gebrauch des Präsens in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG ("innehaben”) sowie die Verwendung von Präsens und Perfekt in Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU ("ist", "zuerkannt worden ist") für ein Abstellen auf einen späteren Beurteilungszeitpunkt streiten (in diesem Sinne bereits - OVG Münster, Urteil vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A [ECLI:DE:OVGNRW: 2020:0313.1442778.17A.00] - juris Rn. 65). Dem Zweck beider Vorschriften, den Familienverband zu schützen und dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen Rechnung zu tragen, wie auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit liefe es indes zuwider, in Bezug auf das Merkmal des Innehabens der Personensorge auf einen späteren Zeitpunkt als denjenigen der Asylantragstellung im Sinne der Einreichung des Schutzersuchens des Elternteils abzustellen (in diesem Sinne auch Epple, in: Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz (GK-AsylG), Stand: Mai 2020, § 26 AsylG Rn. 66; wohl auch Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 37). [...]

36 e) In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zudem geklärt, dass Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU nicht voraussetzt, dass der Elternteil das Familienleben mit dem Stammberechtigten im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich wiederaufnimmt. Vielmehr ist es den Inhabern des Rechts auf Achtung des Familienleben grundsätzlich selbst überlassen, darüber zu entscheiden, in welcher Weise und mit welcher Intensität sie ihr Familienleben führen (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-768/19 - Rn. 54 ff.). Ebenso wenig wie Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU stellt § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG Anforderungen an eine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens im Bundesgebiet. Die Ausgestaltung des Familienlebens ist auch im Rahmen von § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG in unionsrechtskonformer Auslegung dieser Norm der Entscheidung der Familienangehörigen überantwortet. [...]

38 Nach den Ausführungen zu 1. war der Gesetzgeber nicht gehindert, den internalen Familienschutz auch auf solche Angehörige der Kernfamilie, die nicht von Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU erfasst sind, und damit auch auf die minderjährigen ledigen Geschwister des Schutzberechtigten zu erstrecken, soweit deren Erfassung dem Schutz der Einheit der Kernfamilie dient. [...]