Subsidiärer Schutz für Person aus dem Gaza-Streifen:
1. Einer Person aus dem Gaza-Streifen (Palästinensische Gebiete), ist der subsidiäre Schutz zuzuerkennen. Denn Zivilpersonen laufen Gefahr, gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG Opfer der breit angelegten israelischen Militäroperation zu werden. Mit einem baldigen Ende der offenen Kampfhandlungen ist nicht zu rechnen. Auch die humanitäre Situation ist auf unabsehbare Zeit katastrophal, sodass gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG eine unmenschliche Behandlung droht, die gemäß § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG wohl auch einem Akteur zuzurechnen ist.
2. Anders als vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] vorgetragen, steht einer Entscheidung nicht entgegen, dass die Sache wegen einer besonders volatilen Lage nicht spruchreif sei. Zwar regelt § 24 Abs. 5 AsylG seit dem 01.01.2023, dass im Falle einer vorübergehend ungewissen Lage, das BAMF eine Entscheidung aufschieben kann. Es ist jedoch nicht absehbar, dass die seit fünf Monaten andauernden Kampfhandlungen in absehbarer Zeit beendet würden und auch die desaströse humanitäre und wirtschaftliche Lage wird auf unabsehbare Zeit anhalten.
3. Eine Person aus dem Gaza-Streifen hat keine Möglichkeit, internen Schutz gemäß § 3e Abs. 1 AsylG zu erlangen. Insbesondere ist es für staatenlose Personen aus dem Gaza-Streifen nicht möglich, in das Westjordanland einzureisen.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 26.02.2024 - 34 K 5/23 A - asyl.net: M32308; unter Bezug auf: OVG-Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.11.2023 - 3 L 82/23.Z - asyl.net: M32208; VG Hamburg, Urteil vom 14.11.2023 - 14 A 3322/20 - milo.bamf.de; Anmerkung der Redaktion: § 24 Abs. 5 AsylG dürfte im vorliegenden Fall, d.h. in einem asylrechtlichen Klageverfahren nach einer Ablehnung eines Asylantrags als unbegründet, schon keine Anwendung finden. Dieser bezieht sich auf das behördliche Verfahren und soll dem BAMF angesichts einer volatilen Lage zusätzliche Zeit einräumen, eine behördliche Entscheidung zu treffen. In diesem Fall wäre eine Untätigkeitsklage unbegründet. Gerichte dürften ihrerseits jedoch nicht daran gehindert sein, nach einer Entscheidung in der Sache durch das BAMF, ein asylrechtliches Klageverfahren zu entscheiden, selbst wenn sich eine Lage tatsächlich als volatil darstellen sollte. Maßgeblich dürfte insofern nur § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG sein, wonach die Sachlage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist. Siehe auch insofern: OVG Sachsen-Anhalt, a.a.O.)
[...]
30 2. Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (und derzeit und auf unabsehbare Zeit wohl überdies auch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG).
31 Maßgebliche Herkunftsregion für die vorzunehmende Prüfung ist für den Kläger nach den vorstehend wiedergegebenen Grundsätzen der Gaza-Streifen, wo er zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
32 Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 hat der israelische Ministerpräsident den Kriegszustand erklärt. Seither ist der Gaza-Streifen Ziel einer breit angelegten israelischen Militäroperation mit Bombardements aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzähligen zivilen Opfern, massiver Zerstörung der zivilen Infrastruktur und einer Binnenvertreibung von ca. 85 % der Bevölkerung des Gaza-Streifens einhergeht. Zivilisten können im Gaza-Streifen nicht in Sicherheit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grundlage von seitens des Hamas-Gesundheitsministeriums zur Verfügung gestellten Daten – mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 70.000 Verletze unter den überwiegend zivilen palästinensischen Opfern des Krieges gezählt worden [...] In einem Zeitraum von ca. fünf Monaten sind damit ca. 4,5 % der Bevölkerung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Einwohner) getötet oder verletzt worden, mehrheitlich dabei Zivilisten. Und auch die Binnenvertreibung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung macht die Betroffenen zu zivilen Konfliktopfern.
33 Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehbare Zeit unbeschreiblich katastrophal. Im Gaza-Streifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 290.000 beschädigt. Die Bevölkerung ist komplett von – derzeit völlig unzureichenden – Hilfslieferungen abhängig. In der Integrated Food Security Phase Classification (IPC-Skala) wird für alle 2,2 Mio. Einwohner des Gaza-Streifens derzeit eine akute Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise (Phase 3) festgestellt, für 1,17 Mio. Menschen sogar Phase 4 (humanitärer Notfall) und für mehr als eine halbe Million Menschen Phase 5 (Hungersnot / humanitäre Katastrophe). Nur eine von drei Wasserleitungen aus Israel ist in Betrieb, allerdings nur mit 47 % ihrer Kapazität. 83 % der Grundwasserbrunnen sind außer Betrieb, 132 Brunnen sind zerstört oder beschädigt. Zwei der drei großen Meerwasseraufbereitungsanlagen sind nur teilweise funktionsfähig. Das Abwassersystem ist zusammengebrochen. Nurmehr 12 Krankenhäuser funktionieren in sehr eingeschränktem Umfang. Es gibt keinen elektrischen Strom (zu alledem vgl. nur OCHAoPT, Hostilities in the Gaza Strip and Israel - reported impact | Day 145; OCHAoPT, Humanitarian Access Snapshot - Gaza Strip | End-February 2024, 06.03.2024). [...] Die Situation wird allenthalben als katastrophal beschrieben [...].
40-41 Das OVG Sachsen-Anhalt (Beschluss vom 20.11.2023 - 3 L 82/23.Z -, juris), auf dessen Sichtweise die Beklagte hingewiesen worden ist, hat bereits Mitte November 2023 auf der Grundlage der damaligen Zahlen zu zivilen Opfern die Frage, "ob die Auseinandersetzungen zwischen den im Gaza-Streifen agierenden gewaltbereiten Gruppen und den israelischen Streitkräften die Voraussetzungen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen, die jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit aussetzt?", bejaht, ohne hierfür eine Klärung in einem Berufungsverfahren für erforderlich zu halten.
42 Die gegenwärtige Lage im Gazastreifen überschreitet nach allem offenkundig die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Dies gilt selbst dann, wenn – wobei zu dieser Annahme allerdings nicht ohne Weiteres Anlass besteht – die Angaben zu den Todesopfern und Verletzten (im Wesentlichen durch das Ministry of Health in Gaza) deutlich übertrieben sein sollten. Es liegt auf der Hand, dass die großflächigen Zerstörungen durch die zahlreichen Luftangriffe und die intensiven Kampfhandlungen am Boden eine (auch rechtlich) erhebliche Anzahl an Opfern in der Zivilbevölkerung gefordert haben und täglich weiter fordern (vgl. hierzu bereits VG Hamburg, Urteil vom 14.11.2023 - 14 A 3322/20 -, juris).
43 Mit einem baldigen Ende der offenen Kampfhandlungen oder des Konflikts ist nicht zu rechnen [...].
44 Die Einschätzung des Bundesamts zur derzeit (aus der Sicht der Beklagten) fehlenden Spruchreife der Sache wegen der Volatilität der Lage im Gaza-Streifen teilt der Berichterstatter vor diesem Hintergrund nicht. Auch die Regelung in § 24 Abs. 5 AsylG ändert daran nichts (vgl. dazu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.11.2023 - 3 L 82/23.Z -, juris, m.w.N.; VG Hamburg, Urteil vom 14.11.2023 - 14 A 3322/20 -, juris). Wie dargelegt lässt sich den verfügbaren Erkenntnismitteln und den Verlautbarungen der Konfliktparteien entnehmen, dass die Kampfhandlungen mitnichten in absehbarere Zeit beendet würden. Der offene Konflikt dauert nunmehr bereits fünf Monate und fügt sich im Übrigen in eine seit Jahre immer wieder eskalationsanfällige angespannte Lage ein, die vielfach wiederholt zu Gewaltausbrüchen geführt hat. Prognostisch muss daher bis auf Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Gefahren für Zivilpersonen in beachtlicher Weise fortbestehen. Unabhängig davon ist unzweifelhaft, dass die desaströse humanitäre und wirtschaftliche Lage, für die derzeit wohl verantwortliche Akteure vorhanden sind, selbst bei einem Abflauen der offenen Kampfhandlungen von unabsehbarer Dauer und Härte bleiben wird.
45 Ausweichmöglichkeiten oder internen Schutz kann der Kläger nicht – insbesondere auch nicht etwa im Westjordanland – in Anspruch nehmen. Staatenlosen Palästinensern aus dem Gaza-Streifen wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde ein Ausweis bzw. Reisepass mit einer ID-Nummer (beginnend mit einer 4, 8 oder 9) ausgestellt, woraus auch ihre Herkunft aus dem Gaza-Streifen ablesbar bzw. ermittelbar ist. Damit können sie aber gerade nicht in das Westjordanland einreisen, dies würden die israelischen Behörden nicht gestatten. [...]