Subsidiärer Schutz für einen staatenlosen Palästinenser aus dem Gazastreifen:
"Im Gazastreifen herrscht ein bewaffneter Konflikt, in dessen Rahmen jeder dort befindlichen Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit droht (Rn. 21). Es ist allgemeinkundig, dass seit dem 7. Oktober 2023 mehrere tausend palästinensische Zivilpersonen im Rahmen der Kampfhandlungen zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas sowie anderer palästinensischer Gruppierungen getötet oder verletzt worden sind (Rn. 26). Ein Ende der Kampfhandlungen ist im Zeitpunkt der Entscheidung nicht absehbar (Rn.3 2).
Eine inländische Fluchtalternative im Gazastreifen, insbesondere in die Großstadt Rafah, besteht nicht. Palästinenser aus dem Gazastreifen können sich auch nicht im Westjordanland niederlassen (Rn. 36)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
21 Die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sind erfüllt. Das Gericht ist überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Palästinensischen Autonomiegebiete (Gazastreifen) eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
22 Maßgebliches Herkunftsland des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG sind hierbei die Palästinensischen Autonomiegebiete, die geografisch getrennt aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland bestehen. Bei einem Staatenlosen ist nach der Legaldefinition in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG Herkunftsland das Land, in dem er seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. An seiner Herkunft aus dem Gazastreifen als Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete bestehen keine Zweifel.
23 a) Im Gazastreifen herrscht ein bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen den dort agierenden gewaltbereiten palästinensischen Gruppen und den israelischen Streitkräften, wobei offen bleiben kann, ob es sich um einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt handelt (vgl. Urteil der Kammer vom 27. September 2021 – VG 34 K 28.18 A –, juris Rn. 19 ff.; VG Saarlouis, Urteil vom 13. Oktober 2022 – 3 K 648/22 –, juris UA S. 4 ff.; VG Dresden, Urteil vom 5. Oktober 2022 – 11 K 1515/20.A –, juris Rn. 46 ff.).
24 Die Kammer geht in ihrer ständigen Rechtsprechung davon aus, dass jedenfalls seit März 2018 ein andauernder Konflikt zwischen den israelischen Streitkräften und den im Gazastreifen agierenden gewaltbereiten palästinensischen Gruppen und Terrororganisationen herrscht, bei dem es zwischen März 2018 und Mitte 2023 in regelmäßigen, aber dennoch zeitlich unvorhersehbaren Abständen zu bewaffneten Auseinandersetzungen unterschiedlichen Ausmaßes kam [...] Auf diese Umstände kommt es jedoch nicht mehr maßgeblich an.
25 Am 7. Oktober 2023 drangen Mitglieder der Hamas und anderer palästinensischer Organisationen in Israel ein, begingen massive Verbrechen an Zivilisten, verschleppten rund 240 Geiseln nach Gaza und töteten ca. 1.200 Zivilpersonen [...]. Die israelischen Streitkräfte führten bereits an den Folgetagen hunderte Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen durch [...]. Ende Oktober 2023 begannen die israelischen Streitkräfte mit einer Bodenoffensive im nördlichen Teil des Gazastreifens. Auch der südliche Teil des Gazastreifens, insbesondere die Großstadt Khan Younis, ist mittlerweile intensiven Kampfhandlungen ausgesetzt [...]. Eine Ausweitung der Kampfhandlungen auf die Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten steht absehbar bevor [...]. Vermehrte Luftangriffe auf die letzte bisher vergleichsweise wenig betroffene größere Stadt fanden im Februar 2024 statt [...].
26 Nach Angaben des vollständig von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen sind seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 25.000 Palästinenser getötet worden, wobei nicht zwischen getöteten Terroristen und Zivilpersonen unterschieden wird [...]. Hunderttausende Einwohner sind aus dem nördlichen Gazastreifen in den Süden, insbesondere in die Stadt Rafah, geflohen [...]. Anhand von Satellitenaufnahmen gehen Analysten zudem davon aus, dass bisher mindestens die Hälfte aller Gebäude im Gazastreifen beschädigt oder zerstört wurden [...].
28 b) Als Folge der mit diesem Konflikt verbundenen willkürlichen Gewalt besteht für den Kläger bei einer Rückkehr in den Gazastreifen eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit. [...]
31 Nach diesen Maßstäben ist bei dem bewaffneten Konflikt zwischen den israelischen Streitkräften und den gewaltbereiten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen ein derart hoher Grad willkürlicher Gewalt gegenüber der dortigen Zivilbevölkerung zu konstatieren, dass es auf individuelle gefährdungserhöhende Umstände von vorneherein nicht ankommt (vgl. im Ergebnis ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. November 2023 – 3 L 82/23.Z –, juris Rn. 6 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 14. November 2023 – 14 A 3322/20 –, juris EA S. 8).
32 Zwar können die von der Hamas über das von ihr kontrollierte Gesundheitsministerium veröffentlichten Zahlen nicht unabhängig überprüft werden. Diese Zahlen werden jedoch aufgrund früherer Erfahrungen für realistisch gehalten [...]. Auch Organisationen der Vereinten Nationen stützen sich hierauf. Das UN-Koordinierungsbüro für Humanitäre Angelegenheiten [...] beziffert die Zahl der Todesopfer auf über 29.000 und die Zahl der Verletzten auf mehrere Zehntausend [...]. Zwar gibt OCHA an, die Zahlen nicht verifizieren zu können. Jedoch ist das Gericht im entscheidungserheblichen Zeitpunkt überzeugt, dass angesichts der Bombardierungen durch die israelische Luftwaffe von Stellungen der Hamas und weiterer Organisationen, die sich regelmäßig innerhalb ziviler Wohngebäude und Infrastruktur befinden, und der Zerstörung und Beschädigung von mittlerweile über 50 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen, selbst dann von tausenden zivilen Todesopfern auszugehen ist, wenn man die von der Hamas angegebenen Opferzahlen aus propagandistischen Gründen für übertrieben hält und davon ausgeht, dass sich auch hunderte bis tausende Terroristen unter den Todesopfern befinden. [...] Zudem ist ein Ende der Kampfhandlungen in keiner Weise absehbar. Der gesamte, lediglich 360 Quadratkilometer große Gazastreifen ist von den Kampfhandlungen betroffen. [...] Entsprechend wenig Möglichkeiten für Zivilisten, den Kampfhandlungen auszuweichen, gibt es. Es besteht bei jedem israelischen Luftangriff, der auf militärische Infrastruktur der Hamas und anderer Gruppen zielt, eine erhebliche Wahrscheinlichkeit der unvermeidlichen Tötung von Zivilisten.
33 Es ist auch nicht mit einem baldigen Ende des Krieges und einer Entspannung der Lage zu rechnen. [...]