VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 06.12.2023 - 6 E 1543 We - asyl.net: M32214
https://www.asyl.net/rsdb/m32214
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Zweitantragsbescheid wegen Zweifeln an Vereinbarkeit mit Unionsrecht:

1. An der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung, die gemäß § 71a Abs. 1, Abs. 4, § 36 AsylG erlassen wurde, weil ein Asylantrag wegen eines erfolglosen Asylverfahrens in einem anderen Dublin-Staat als unzulässig abgelehnt wird, bestehen mittlerweile "ernstliche Zweifel", sodass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen solche Abschiebungsandrohung anzuordnen ist.

2. Es ist klärungsbedürftig, ob die Regelung zum Zweitantrag gemäß § 71a AsylG mit den unionsrechtlichen Regelungen zum Folgeantrag gemäß Art. 2 Bst. q, Art. 33 Abs. 2 Bst. d Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU] vereinbar sind. Denn es ist nicht klar, ob diese Regelungen ermöglichen, Anträge als unzulässig abzulehnen, wenn das vorherige Asylverfahren in einem anderen Dublin-Staat durchgeführt wurde, oder ob sich diese Möglichkeit auf Konstellationen beschränkt, in denen das vorherige, erfolglose Asylverfahren im selben Land durchgeführt wurde.

(Leitsätze der Redaktion; so auch: OVG Thüringen, Beschluss vom 06.12.2023 - 6 E 1543/23 - verwaltungsgerichte.thueringen.de; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06.04.2023 - 4 R 87/23 - asyl.net: M31491; VGH Bayern, Beschluss vom 26.01.2023 - 6 AS 22.31155 (Asylmagazin 4/2023, S. 115 f.) - asyl.net: M31306; anderer Ansicht: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.12.2022 - 11 LA 280/21 - asyl.net: M31670; Anmerkung der Redaktion: Die Frage wurde dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt: VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.08.2021 - 9 A 178/21 (Asylmagazin 3/2022, S. 97 ff.) - asyl.net: M29953)

Schlagwörter: Zweitantrag, Zulässigkeit, Asylverfahrensrichtlinie, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, AsylG § 71a Abs. 4, RL 2013/32/EU Art. 2 Bst. q, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d,
Auszüge:

[...]

6 2. Der Antrag ist auch begründet.

7 [...] Das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet bleiben zu dürfen, überwiegt daher im hiesigen Fall das öffentliche Vollzugsinteresse.

8 a) Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung sind zunächst die §§ 71 a Abs. 1 und 4, 36 Abs. 1, 4 S. 1, 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Danach darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen, in denen das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens – wie hier – auf einen Zweitantrag hin ablehnt, nur dann angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. [...]

9 b) Unter Zugrundelegung jener Maßstäbe lässt die im Bescheid vom 26. September 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit erkennen. Denn festzustellen ist, dass sich mittlerweile in der Rechtsprechung und im Schrifttum eine große Debatte um die Frage entsponnen hat, ob § 71 a Abs. 1 AsylG unionsrechtskonform ist (vgl. hierzu etwa nur VG Minden, Beschluss vom 31. August 2021 – 1 L 547/21.A, Rn. 11-16 m. w. N. –, zit. nach juris). Die Vorschrift besagt, dass dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchgeführt wird, wenn die Bundesrepublik für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.

10 Bislang ließ sich konstatieren, dass die Frage, ob § 71 a Abs. 1 AsylG mit Unionsrecht, namentlich mit Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 2 lit. q) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. "Verfahrensrichtlinie", im Folgenden: RL 2013/32/EU) in Einklang steht, in der nationalen Rechtsprechung und Kommentarliteratur beinahe ausnahmslos bejaht wurde [...].

11 Doch hat sich die Kommission der Europäischen Union kürzlich in einem Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union auf den Standpunkt gestellt, ein weiterer Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes könne nur dann als "Folgeantrag" i. S. v. Art. 2 lit. q) und Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU eingestuft werden, wenn er in demjenigen Mitgliedstaat gestellt worden sei, dessen zuständige Stellen einen früheren Antrag desselben Antragstellers mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt habe (vgl. EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 – C-8/20, Rn. 29 –, zit. nach juris; VG Minden, Beschluss vom 31. August 2021 – 1 L 547/21.A, Rn. 14 –, zit. nach juris).

12 Zwar ließ der Gerichtshof der Europäischen Union diese Frage in der zitierten Entscheidung offen [...]. Mittlerweile ist sie aber wieder erneut anhängig geworden [...]. Jüngst hat auch das Thüringer Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. November 2023 die Klärungsbedürftigkeit der Frage, ob das von § 71a AsylG vorgesehene Zweitantragsverfahren mit der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) vereinbar ist, wenn der frühere Antrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wurde (mitgliedstaatsübergreifendes Zweitantragsverfahren), bejaht (OVG Weimar, Beschluss vom 22. November 2023 – 3 ZKO 762/21 –, S. 2).

13 Vor dem Hintergrund dieser gesamten Entwicklung geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass die aufgeworfene Frage nicht länger als "acte clair" bezeichnet werden kann. In der Folge bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der auf jener Rechtsgrundlage erlassenen Abschiebungsandrohung, weshalb dem hiesigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stattzugeben war. [...]