EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 08.02.2024 - C-216/22 - A.A. gg. Deutschland - asyl.net: M32160
https://www.asyl.net/rsdb/m32160
Leitsatz:

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs kann Folgeantrag begründen:

1. Die Möglichkeit, Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, stellt eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten dar, Anträge in der Sache zu prüfen. Die in Art. 33 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU] abschließend aufgezählten Unzulässigkeitsgründe sind deshalb eng auszulegen. Umgekehrt sind die Fälle, in denen die Asylverfahrensrichtlinie verlangt, einen Folgeantrag wegen neuer Umstände oder Erkenntnisse als zulässig zu betrachten und in der Sache zu prüfen, weit auszulegen.

2. Gemäß Art. 33 Abs. 2 Bst. d und Art. 40 Abs. 2, Abs. 3 Asylverfahrensrichtlinie kann jedes Urteil des EuGH einen die Zulässigkeit des Folgeantrags begründenden neuen Umstand darstellen, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass die antragstellende Person als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.

3. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob das Urteil des EuGH (EuGH, Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016), wonach eine starke Vermutung dafür besteht, dass die Verweigerung des Militärdienstes bzw. die Verfolgung aufgrund dessen an einen Verfolgungsgrund anknüpft, einen neuen Umstand bzw. ein neues Element darstellt, das erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der antragstellenden Person internationaler Schutz (hier: die Flüchtlingseigenschaft) zuzuerkennen ist.

4. Wird eine Unzulässigkeitsentscheidung von einem Gericht aufgehoben, ist es mit Unionsrecht sowohl vereinbar, dass die Sache zur Entscheidung unter Berücksichtigung der ergangenen Gerichtsentscheidung an die Behörde zurückverwiesen wird, als auch, dass das Gericht selbst in der Sache über den Antrag auf internationalen Schutz entscheidet.

(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des: VG Sigmaringen, Beschluss vom 22.02.2022 - A 4 K 855/21 (Asylmagazin 7-8/2022, S. 253 ff.) - asyl.net: M30620)

Siehe auch:

  • Pressemitteilung EuGH: "Ein Urteil des Gerichtshofs kann einen neuen Umstand darstellen, der eine erneute Prüfung eines Asylantrags in der Sache rechtfertigt" vom 08.02.2024, curia.europa.eu
  • Pressemitteilung Pro Asyl: "EuGH-Urteil zeigt: Tausenden syrischen Kriegsdienstverweigerern wurde in Deutschland zu Unrecht ein Asylfolgeantrag verweigert" vom 08.02.2024, proasyl.de
Schlagwörter: Asylfolgeantrag, EuGH, Änderung der Sach- und Rechtslage, Zweitantrag, Urteil, Unzulässigkeit, Syrien, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d, RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 3, AsylG § 71 Abs. 1, AsylG § 71a Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 10
Auszüge:

[...]

11 Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist syrischer Staatsangehöriger. Am 26. Juli 2017 stellte er in Deutschland einen Asylantrag, nachdem er eigenen Angaben zufolge Syrien 2012 verlassen hatte, sich bis 2017 in Libyen aufgehalten hatte und dann über Italien und Österreich nach Deutschland eingereist war.

12 Bei seiner Anhörung im Bundesamt gab er an, zwischen 2003 und 2005 seinen Militärdienst in Syrien abgeleistet zu haben und dieses Land aus Angst davor verlassen zu haben, erneut zum Militärdienst einberufen oder inhaftiert zu werden, falls er den Militärdienst nicht antreten würde. [...]

13 Mit Entscheidung vom 16. August 2017 erkannte das Bundesamt ihm subsidiären Schutz zu, lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber ab.

14 Das Bundesamt begründete diese Ablehnung damit, dass nicht anzunehmen sei, dass der syrische Staat die Emigration des Klägers des Ausgangsverfahrens als oppositionelle Haltung gegen das Regime auffasse. Zum einen stamme er nämlich aus einem Gebiet, in dem die syrische Armee, die Freie Syrische Armee und der Islamische Staat zum Zeitpunkt seiner Ausreise gegeneinander gekämpft hätten. Zum anderen gebe es keinen Grund zu der Annahme, dass er in seinem Land als fahnenflüchtig oder gegenüber dem Regime oppositionell eingestellte Person wahrgenommen werde, da er gemäß seinen eigenen Angaben Syrien vor seiner Einberufung in die syrische Armee verlassen habe. Im Übrigen habe er nicht dargetan, dass die Einberufung Grund für seine Ausreise gewesen sei. [...]

15 Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen diesen Bescheid keinen Rechtsbehelf ein, der damit unanfechtbar wurde.

16 Am 15. Januar 2021 stellte er beim Bundesamt einen neuen Asylantrag, d. h. einen "Folgeantrag" im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32. Im Kern stützte er seinen Antrag auf das Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C-238/19, EU:C:2020:945). Er führte im Wesentlichen aus, dass dieses Urteil eine "Änderung der Rechtslage" im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften darstelle, weshalb das Bundesamt verpflichtet sei, seinen Folgeantrag in der Sache zu prüfen. Diese Änderung der Rechtslage bestehe darin, dass dieses Urteil eine für Antragsteller auf Asyl günstigere Auslegung der Beweislastregelungen vorsehe, als sie von der nationalen Rechtsprechung für solche Antragsteller, die aus ihrem Land geflohen seien, um sich ihren militärischen Pflichten zu entziehen, vertreten werde. Diese Änderung ergebe sich aus der vom Gerichtshof verwendeten Formel, nach der unter bestimmten Bedingungen eine "starke Vermutung" dafür bestehe, dass die Verweigerung des Militärdiensts mit einem der in Art. 10 der Richtlinie 2011/95 aufgezählten Verfolgungsgründe in Zusammenhang stehe.

17 Mit Entscheidung vom 22. März 2021 lehnte das Bundesamt den Asylfolgeantrag des Klägers des Ausgangsverfahrens als unzulässig ab. Es begründete diese Entscheidung im Wesentlichen damit, dass das Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C-238/19, EU:C:2020:945), nicht dazu führe, dass es diesen Antrag in der Sache prüfen müsse. [...]

18 Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob beim Verwaltungsgericht Sigmaringen (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Bundesamts vom 22. März 2021 und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

19 Dieses Gericht stellt fest, dass die Asylbehörde nach § 71 Abs. 1 des Asylgesetzes in Verbindung mit § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, wenn der Drittstaatsangehörige nach unanfechtbarer Ablehnung eines ersten Asylantrags einen Folgeantrag stelle, das Verfahren wiederaufgreifen müsse, falls sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert habe. In Bezug auf eine Änderung der "Rechtslage" im Sinne dieser Bestimmungen stellt es fest, dass gemäß der Auslegung durch die herrschende nationale Rechtsprechung nur eine Änderung der anwendbaren Bestimmungen grundsätzlich geeignet sei, unter diesen Begriff zu fallen, nicht jedoch eine gerichtliche Entscheidung wie etwa eine Entscheidung des Gerichtshofs. [...]

20 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob diese Auslegung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da es damit allgemein abgelehnt werde, eine Entscheidung des Gerichtshofs als geeignet anzusehen, die "Rechtslage" zu ändern und so das Wiederaufgreifen des Verfahrens zu rechtfertigen, wenn ein Folgeantrag gestellt werde, obwohl der Gerichtshof im Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, EU:C:2020:367), entschieden habe, dass die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, in dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt werde, einen neuen Umstand im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 darstelle.

21 Daher fragt sich das vorlegende Gericht u. a., ob eine Entscheidung des Gerichtshofs, die sich darauf beschränkt, eine Vorschrift des Unionsrechts auszulegen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung über einen Folgeantrag bereits in Kraft ist, einen "neuen Umstand" bzw. ein "neues Element" oder eine "neue Erkenntnis" im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 darstellen kann. Insbesondere fragt es sich, ob das Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C-238/19, EU:C:2020:945), auf das sich der Kläger des Ausgangsverfahrens beruft, im vorliegenden Fall einen solchen "neuen Umstand" bzw. ein solches "neues Element" oder eine solche "neue Erkenntnis" darstellt, angesichts der Tatsache, dass es wichtige Klarstellungen zur Anwendung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und Art. 10 der Richtlinie 2011/95 auf syrische Kriegsdienstverweigerer enthält. [...]

25 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Voraussetzungen ein Urteil des Gerichtshofs einen "neuen Umstand" bzw. ein "neues Element" oder eine "neue Erkenntnis" im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 darstellen kann. [...]

27 Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 sieht insbesondere vor, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz dann als unzulässig betrachten können, wenn "es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind".

28 Der Begriff "Folgeantrag" wird in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert und bezeichnet einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird.

29 Das Verfahren zur Prüfung von Folgeanträgen wird in Art. 40 der Richtlinie 2013/32 geregelt, der in Bezug auf die Zulässigkeit solcher Anträge eine Prüfung in zwei Etappen vorsieht (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C-921/19, EU:C:2021:478, Rn. 34 und 35).

30 So bestimmt Abs. 2 dieses Artikels in einem ersten Schritt, dass für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ein Folgeantrag zunächst daraufhin geprüft wird, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

31 Nur wenn im Vergleich zum ersten Antrag auf internationalen Schutz tatsächlich solche neuen Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, wird gemäß Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 die Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags fortgesetzt, um zu prüfen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist (Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Neue Elemente oder Erkenntnisse], C-921/19, EU:C:2021:478, Rn. 37). [...]

34 Zur Beurteilung der Bedeutung der Begriffe "neuer Umstand" bzw. "neues Element" oder "neue Erkenntnis" im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 ist festzustellen, dass aus dem Wortlaut dieses Art. 33 Abs. 2, insbesondere der Wendung "nur dann", die der Aufzählung der Unzulässigkeitsgründe vorausgeht, und dem Zweck dieser letztgenannten Bestimmung sowie aus der Systematik dieser Richtlinie hervorgeht, dass die in dieser Bestimmung genannte Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt, einen solchen Antrag in der Sache zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Außerhalb des Aufnahmestaats geborenes Kind von Flüchtlingen], C-720/20, EU:C:2022:603, Rn. 49).

35 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass sowohl aus dem abschließenden Charakter der Aufzählung in diesem Art. 33 Abs. 2 als auch aus dem Ausnahmecharakter der in dieser Aufzählung enthaltenen Unzulässigkeitsgründe folgt, dass diese Gründe eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Außerhalb des Aufnahmestaats geborenes Kind von Flüchtlingen], C-720/20, EU:C:2022:603, Rn. 51).

36 Dementsprechend sind umgekehrt die Fälle, in denen die Richtlinie 2013/32 verlangt, einen Folgeantrag als zulässig zu betrachten, weit auszulegen.

37 Des Weiteren geht aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 und insbesondere dem Gebrauch der Wendung "neue Umstände oder Erkenntnisse" hervor, dass diese Bestimmung nicht nur auf eine Änderung der Sachlage hinsichtlich der persönlichen Situation eines Antragstellers oder der seines Herkunftslands abzielt, sondern auch auf neue rechtliche Umstände. [...]

40 Im besonderen Kontext der Richtlinie 2013/32 kann ein Urteil des Gerichtshofs unter die Begriffe "neuer Umstand" bzw. "neues Element" im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie fallen, und zwar unabhängig davon, ob dieses Urteil vor oder nach dem Erlass der Entscheidung über den früheren Antrag erlassen wurde oder ob in diesem Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, auf die diese Entscheidung gestützt war, mit dem Unionsrecht festgestellt wird oder es sich auf die Auslegung des Unionsrechts einschließlich desjenigen, das beim Erlass dieser Entscheidung bereits in Kraft war, beschränkt. [...]

44 Daraus folgt, dass jedes Urteil des Gerichtshofs einen neuen Umstand bzw. ein neues Element im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 darstellen kann. [...]

46 Diese Auslegung ermöglicht es dem Antragsteller nämlich, zur Stützung seines Folgeantrags das Argument vorzubringen, dass sein früherer Antrag unter Verstoß gegen ein Urteil des Gerichtshofs abgelehnt wurde, da ein solches Argument naturgemäß im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags nicht vorgetragen werden konnte. [...]

49 Allerdings ist es, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, für die Zulässigkeit eines Folgeantrags gemäß Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 außerdem erforderlich, dass die neuen Elemente oder Erkenntnisse "erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist". [...]

52 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C-238/19, EU:C:2020:945), auf das sich der Antragsteller zur Stützung seines Folgeantrags beruft, einen neuen Umstand bzw. ein neues Element darstellt, der bzw. das erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass er als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. [...]

54 Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass jedes Urteil des Gerichtshofs, und zwar auch ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war, unabhängig von seinem Verkündungsdatum einen neuen Umstand bzw. ein neues Element im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. [...]

55 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es erlaubt oder sogar verlangt, dass das zuständige nationale Gericht, wenn es eine Entscheidung für nichtig erklärt, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, selbst über diesen Antrag entscheiden kann, ohne dessen Prüfung an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen. [...]

57 Nach Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie muss dieser Rechtsbehelf, um wirksam zu sein, eine umfassende Ex-nunc-Prüfung durch das zuständige nationale Gericht umfassen, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95 beurteilt wird. [...]

59 In Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 ist jedoch nur die Prüfung des Rechtsbehelfs, nicht aber die Folge einer etwaigen Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung geregelt (Urteile vom 25. Juli 2018, Alheto, C-585/16, EU:C:2018:584, Rn. 145, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C-556/17, EU:C:2019:626, Rn. 54).

60 Der Unionsgesetzgeber wollte mithin beim Erlass der Richtlinie 2013/32 keine gemeinsame Vorschrift einführen, wonach die Asylbehörde nach der Nichtigerklärung der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz ihre Zuständigkeit verlieren sollte, so dass es den Mitgliedstaaten weiterhin freisteht, vorzusehen, dass die Akte im Anschluss an eine solche Nichtigerklärung zur erneuten Entscheidung an diese Behörde zurückzusenden ist (Urteile vom 25. Juli 2018, Alheto, C-585/16, EU:C:2018:584, Rn. 146, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C-556/17, EU:C:2019:626, Rn. 54).

61 Die Richtlinie 2013/32 räumt den Mitgliedstaaten somit zwar einen gewissen Spielraum ein, um insbesondere zu regeln, wie ein Antrag auf internationalen Schutz zu bearbeiten ist, wenn eine frühere Entscheidung über diesen Antrag von einem Gericht für nichtig erklärt wurde. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten trotz dieses Spielraums bei der Umsetzung dieser Richtlinie verpflichtet sind, Art. 47 der Charta zu beachten, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. [...]

63 Daraus folgt, dass es zwar Sache jedes Mitgliedstaats ist, zu entscheiden, ob das Gericht, das die Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Folgeantrags für nichtig erklärt hat, diesem Antrag stattgeben oder ihn aus einem anderen Grund ablehnen kann oder ob es ihn vielmehr an die Asylbehörde zur erneuten Entscheidung zurückverweisen muss. Im letztgenannten Fall ist diese Behörde jedoch verpflichtet, eine solche gerichtliche Entscheidung und die sie tragenden Gründe zu beachten. [...]

67 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es erlaubt, nicht aber verlangt, dass die Mitgliedstaaten ihre Gerichte ermächtigen, dann, wenn sie eine Entscheidung für nichtig erklären, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, selbst über diesen Antrag zu entscheiden – unter der Voraussetzung, dass sie die in Kapitel II dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien achten –, ohne seine Prüfung an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen. [...]